Vor dem nächsten Referendum

Die Iren haben aus den verschiedensten Gründen gegen den Nizza-Vertrag gestimmt. Doch mit dem Inhalt des Vertrags hatte das nichts zu tun

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Der Vorgang ist symptomatisch dafür, dass den meisten Europäern die Brüsseler Politik ein Buch mit sieben Siegeln ist: Die Iren haben den Vertrag von Nizza abgelehnt, ohne seinen Inhalt zu kennen. Denn die Motive, die nun von Wahlanalysten als Grund für das geplatzte Referendum ausgemacht werden, haben mit den in Nizza ausgehandelten Kompromissen kaum etwas zu tun.

Die irischen Grünen lehnen den Vertrag ab, weil sie in einer Union, die verstärkt außen- und sicherheitspolitisch zusammenarbeitet, um Irlands Neutralität fürchten. Sie ziehen viel zu spät die Notbremse. Denn die Weichen für eine europäische Kriseninterventionstruppe wurden bereits im Sommer 1999 beim Rat von Köln gestellt. Ein halbes Jahr später in Helsinki einigte sich der Rat schon auf den Umfang der ständig in Bereitschaft stehenden EU-Truppe.

Der Nizza-Vertrag stellt lediglich fest, dass die Bestrebungen „zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, falls der Europäische Rat dies beschließt“. Er empfiehlt in diesem Fall den Staaten, einen solchen Beschluss „gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften anzunehmen“. Mit anderen Worten: Die Iren werden noch Gelegenheit bekommen, in einem Referendum darüber zu entscheiden, ob sie ihre Soldaten unter EU-Flagge zum Kriseneinsatz schicken wollen.

Die Motive der Nizza-Gegner aus dem rechten Lager sind weniger eindeutig als die klar pazifistische Linie der Grünen. Einige sind schlicht verärgert, dass die EU-Partner die Steuersenkung und Neuverschuldung gerügt und sich damit in innerirische Angelegenheiten eingemischt haben. Der Maastricht-Vertrag allerdings, der die Einheitswährung brachte und diese Einmischung erst möglich machte, wurde von den Iren 1992 in einem Referendum mit 65 Prozent Jastimmen akzeptiert.

Andere fürchten, dass Irland in einer nach Osten erweiterten und damit ärmeren EU aus der Gruppe der Subventionsempfänger auf die Geberseite rutschen könnte. Die gleiche Angst um verlorene Pfründe trieb Spanien, Portugal und Griechenland in den vergangenen Wochen dazu, die Erweiterungsverhandlungen diplomatisch zu blockieren. Im Ausschuss der Ständigen EU-Vertreter in Brüssel fiel Irland angenehm auf, weil es sich an diesem Geschacher um die Fleischtöpfe nicht beteiligte. Den Neidkomplex in der eigenen Bevölkerung scheinen die irischen Diplomaten aber unterschätzt zu haben.

Mit dem Nizza-Vertrag jedenfalls hat der Streit um Fördermittel für den armen Osten Europas nichts zu tun. Die Finanzverhandlungen darüber sollen frühestens im Jahr 2004 beginnen.

Das irische Signal für die neue euroskeptische Parlamentsmehrheit in Italien könnte verheerend sein. Und Jörg Haider, der keine Gelegenheit auslässt, um gegen Europa Stimmung zu machen, denkt bereits laut über ein Nizza-Referendum in Österreich nach.

Diese Domino-Wirkung haben die traditionell europafreundlichen Iren ganz sicher nicht beabsichtigt. Beim Allgemeinen Rat heute in Luxemburg und vor allem Ende der Woche beim Göteborger Gipfel werden alle fünfzehn Staatschefs darüber nachdenken, wie sie den Scherbenhaufen zusammenkehren können. Diplomatische und juristische Finesse ist gefragt: Wie könnte eine Zusatzerklärung zum Nizza-Vertrag formuliert sein, die derart widersprüchliche Ängste in Irland beschwichtigt? Herauskommen wird eine Konstruktion, die die Verquastheit und Bürgerferne des Nizza-Vertrags weiter verstärkt. „Dabei sollen die widersprüchlichen Sorgen berücksichtigt werden, ohne die Substanz des Vertrages anzutasten“, wie der schwedische Ratspräsident Persson und Kommissionschef Prodi am Freitagabend gemeinsam erklärten.

Die Iren sollen also so lange zur Wahlurne gebeten werden, bis sie irgendwann entnervt Ja sagen – ein Rezept, das schon 1992 in Dänemark angewandt wurde, als dort der Maastricht-Vertrag zunächst im Referendum scheiterte und beim zweiten Versuch eine knappe Mehrheit bekam. Das dänische Beispiel zeigt, wohin die europäische Reise in Zukunft gehen könnte: Kleine Länder, deren Meinung in der EU immer weniger Gewicht haben, steigen aus der Gemeinschaftspolitik aus. Der harte Kern schließt sich um so enger zusammen.

Diese Gefahr wird von Prodi durchaus gesehen. In seiner mit Persson gemeinsam verfassten Stellungnahme heißt es weiter: „Die Situation unterstreicht zweifellos die Notwendigkeit, Europa den Bürgern besser zu erklären und sie mehr an der Debatte über die Zukunft der Unionzu beteiligen.“

Vielleicht hat der „Schock von Dublin“ bewirkt, was weder geringe Europawahl-Beteiligung noch mahnende Politikerworte bislang zu Stande brachten: Nationale Parlamente und Zivilgesellschaft mit an den Tisch zu bitten, wenn in den kommenden zwei Jahren das Gepfusch von Nizza in einen lesbaren Verfassungsvertrag für die EU umgestrickt werden soll.