Todesstrafe als politisches Symbol

Die meisten Leser dieser Zeitung, wie die meisten Deutschen und auch ich selbst, fühlen sich vermutlich angeekelt und abgestoßen von dem Schauspiel der Hinrichtung von Timothy McVeigh.[*]Verständnislos und ungläubig registrieren wir, dass McVeigh selbst das Ereignis zu begrüßen scheint, und mehr noch, dass die Hinrichtung über Kabel ausgestrahlt werden soll, für zahlreiche Zuschauer einschließlich der Verwandten der 168 Opfer des Bombenattentats von Oklahoma City, das McVeigh begangen hat. Viele von ihnen behaupten, sie freuten sich auf dieses Schauspiel. Wie ist das möglich bei zivilisierten Menschen in einer fortgeschrittenen westlichen Demokratie des einundzwanzigsten Jahrhunderts?

Solche Vorbehalte sind weder in den USA häufig noch in meinem eigenen Lande, in Großbritannien, wo sich die öffentliche Meinung in ihrer überwiegenden Mehrheit weiterhin für die Todesstrafe ausspricht, die in den Sechzigerjahren von einer Labour-Regierung abgeschafft worden war. Auch in Deutschland waren sie bis vor relativ kurzer Zeit nur bei einer Minderheit der Bevölkerung zu finden.

Zwar scheint sich kaum noch jemand daran zu erinnern, aber die Todesstrafe war während der gesamten deutschen Geschichte, einschließlich der Weimarer Republik, ein zentraler Bestandteil der Strafrechtspolitik und der Strafgesetzbücher.

Noch in den ersten Nachkriegsjahren wurde sie von deutschen Gerichten verhängt und erst im Grundgesetz abgeschafft, weil damals die Sozialdemokraten, die schon immer aus prinzipiellen Gründen die Todesstrafe bekämpft hatten, Unterstützung bei den Abgeordneten der rechtsgerichteten Deutschen Partei und einer beträchtlichen Minderheit der Christlichen Demokraten fanden – denn diese wollten den häufigen Todesurteilen alliierter Militärtribunale gegen deutsche Kriegsverbrecher ein Ende bereiten.

In der DDR wurde die Todesstrafe weiterhin für verschiedene kriminelle und politische Vergehen verhängt und bis 1968 mit der Guillotine vollzogen. Erst 1981 wurden die Hinrichtungen endlich eingestellt. 1987 wurde die Todesstrafe formell aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, unter dem Beifall der Mehrheit der DDR-Bürger. In den Fünfzigerjahren wurde in der Bundesrepublik erfolglos versucht, sie wieder einzuführen, und seit den Siebzigerjahren ergeben Meinungsumfragen Mehrheiten gegen die Todesstrafe, und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Dazu hat vor allem die Erinnerung an den Missbrauch der Todesstrafe im Nationalsozialismus beigetragen – eine Erinnerung, die sich erstmals in den Sechzigerjahren artikulierte. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden aufgrund von Urteilen deutscher Gerichte etwa 16.500 Menschen offiziell mit dem Beil oder – seit 1936 – mit der Guillotine oder dem Strang hingerichtet. In der ganzen Zeit von 1933 bis 1945 wurden die Hinrichtungen vom Regime auf düsterroten Plakaten an den Litfaßsäulen bekannt gemacht, mit den Namen und Verbrechen der Hingerichteten in großen, fetten Lettern. Publizität für die Ausführung der Todesstrafe war nichts Neues. Bis in das dritte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts hinein wurden die Hinrichtungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern „auf freiem Felde“ vollzogen, vor Menschenmengen, die von Reportern auf Zehntausende geschätzt wurden.

Was motivierte die Menschen dazu? Die öffentlichen Hinrichtungen früherer Zeiten galten modernen Kommentatoren häufig als eine Art Volksfest, bei dem ein betrunkener Mob das blutige Schauspiel genoss wie bei einem Hahnenkampf oder einer Bärenhatz. Es scheint jedoch mehr darauf hinzudeuten, dass die Teilnahme der Öffentlichkeit in sehr hohem Maße ritualisiert war, dass die ganze fein ausgearbeitete Zeremonie einer Hinrichtung stark religiöse Untertöne hatte und eher einen kollektiven Akt der Sühne bildete, mit dem die Gemeinschaft ihr Gewissen beruhigte durch die Gewissheit, dass dem Verbrecher auf dem Schafott die Absolution erteilt wurde, so dass ihn alsbald im Himmel die ewige Seligkeit erwartete.

Erst als der aufgeklärte Absolutismus gegen diese Rituale vorging, die öffentliche Beteiligung so weit wie möglich einschränkte und die öffentlichen Hinrichtungen in Staatsakte umzuwandeln suchte, um potenzielle Verbrecher abzuschrecken und ihnen die Strafe für Verstöße gegen das Gesetz vor Augen zu führen, begannen die Massen und die Verbrecher auf dem Schafott mit ihrem ungebührlichen Verhalten – wenn auch niemals so weitgehend wie in England, wo die Öffentlichkeit besonders feindselig eingestellt war, weil die Todesstrafe, anders als in den deutschen Staaten, häufig für den Diebstahl eines Schafes oder weniger Groschen vollzogen wurde. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde das dann zum wichtigsten Grund, die Hinrichtungen hinter verschlossenen Türen durchzuführen. Die biederen Bürger, die sich bis zum Ende der Weimarer Republik in recht großer Zahl Eintrittskarten zu diesen Veranstaltungen verschafften, mögen in dieser Erfahrung wohl eine Probe auf ihre mannhafte Standfestigkeit beim Anblick von Blut gesehen haben.

Die Todesstrafe ist in moderner Zeit vor allem aus zwei Gründen beibehalten und vollzogen worden. Der erste zeigte sich besonders deutlich in der deutschen Geschichte – die Abschaffung der Todesstrafe hatte sich zu einer zentralen Forderung des Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt und war in die 1848 in der Paulskirche verkündeten Grundrechte des deutschen Volkes aufgenommen worden. Den Konservativen galt das als Angriff auf das Gottesgnadentum des Monarchen, verkörpert vor allem in der Macht über Leben und Tod, die der Monarch mittels des Begnadigungsrechts ausübte. Es war daher keine Überraschung, dass die Todesstrafe während der Reaktionszeit in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts wieder eingeführt wurde und dann erneut nach ihrer De-facto-Abschaffung während des liberalen Aufschwungs in den Siebzigerjahren. Die Todesstrafe war in Deutschland zu einem politischen Symbol geworden – im Unterschied zu Frankreich, wo die Linken der Erinnerung an die Revolution von 1789 und ihr wichtigstes Machtinstrument, die Guillotine, treu blieben, was die Entstehung einer solchen Gleichung verhinderte.

Daher spiegelt die Zahl der Hinrichtungen in der modernen deutschen Geschichte mit erstaunlicher Präzision Ebbe und Flut von Autoritarismus und Liberalismus in der deutschen Politik – zahlreiche Hinrichtungen in den Zwanziger-, Fünfziger- und Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts, wenige in den Vierziger-, Siebziger- und den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, und eine gewaltige Zunahme in den Jahren des Nationalsozialismus, bevor sie dann in der Nachkriegszeit endgültig verschwand.

Ähnlich fiel die einzige Zeit, in der in der modernen amerikanischen Geschichte die Todesstrafe kaum noch vollzogen wurde, in die ultraliberalen Sechziger und frühen Siebziger des zwanzigsten Jahrhunderts. Bei der Wiederaufnahme der Hinrichtungen in den USA seit Mitte der Siebzigerjahre hat offensichtlich der politische Umschwung eine bedeutende Rolle gespielt. Die Zunahme der Hinrichtungen ging einher mit der gewaltigen Ausweitung des Gefängnissystems und spiegelte unter anderem die politische Vorherrschaft des Republikanertums in der Ära Reagans und der beiden Bushs und der „neuen“ Demokratischen Partei unter Bill Clinton in den Neunzigerjahren, die sich deutlich weniger liberal zeigte als die alte.

Für die Todesstrafe in modernen Gesellschaften gibt es jedoch noch einen zweiten, möglicherweise wichtigeren Grund. Bei der Beibehaltung der Todesstrafe hat immer die religiöse Überzeugung eine Rolle gespielt. In der modernen deutschen Geschichte zum Beispiel engagierte sich für die Todesstrafe am konsequentesten die katholische Zentrumspartei, deren Vertreter in Kaiserreich und Weimarer Republik durchweg gegen die Abschaffung stimmten und deren Nachfolger, die Christlichen Demokraten, sich in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik entschieden dafür einsetzten, die Todesstrafe wieder einzuführen.

Durchweg wurde als Begründung für die Hinrichtung von Kriminellen nicht die Abschreckung ins Feld geführt, sondern die Vergeltung. So haben die Anhänger der Todesstrafe immer argumentiert, abgesehen von ihrer Rolle als einem Symbol der Souveränität sei der wichtigste Grund für die Todesstrafe, dass die Gerechtigkeit zumindest bei Mord „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ fordere. Warum das so sein sollte, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Es handelt sich hier um ein Prinzip, das auf andere Verbrechen nur selten angewandt wird. Wir verlangen zum Beispiel nicht, dass einem Mann, der einem anderen bei einem Angriff den Arm bricht, zur Strafe der eigene Arm gebrochen werden soll.

Es gibt auch notwendigerweise keine Proportionalität bei der Hinrichtung eines Massenmörders; Timothy McVeigh kann nur einmal sterben, nicht 168-mal. Hinter der Idee der Vergeltung im Falle des Mordes verbirgt sich der Glaube, der Verbrecher solle nicht nur in diesem Leben bestraft werden, sondern der ewigen Verdammnis in der Hölle überantwortet werden, wo ihn die wirklich angemessene Vergeltung seiner Verbrechen erwarte. Die Menschenmassen, die sich bei Hinrichtungen regelmäßig vor amerikanischen Gefängnissen versammeln, beziehen sich nicht bloß auf den elektrischen Stuhl, wenn sie Plakate mit der Aufschrift „Burn, baby, burn“ hochhalten. Es ist kein Zufall, dass die Todesstrafe in den USA – nicht nur in den Südstaaten und dem „Bible Belt“ – ausgerechnet immer dann mehr Befürworter findet, wenn der christliche Fundamentalismus und die religiöse Rechte auf dem Vormarsch sind. Die Todesstrafe wird auch in anderen fundamentalistischen Regimen häufig vollzogen, vom Iran bis zu Saudi-Arabien.

Entsprechend verlor die Todesstrafe ihre Bedeutung in den europäischen Gesellschaften, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert einen langen Prozess der Säkularisierung durchliefen; sie wurde allmählich nicht mehr angewendet, und der einzige Versuch, eine weltliche Rechtfertigung in Begriffen der „Rassenhygiene“ zu finden, erwies sich schließlich als moralisch inakzeptabel und sozial zerstörerisch.

Im allgemeinen geht die Todesstrafe mit hohen Mordziffern einher; sie spiegelt in einer Gesellschaft wie der der USA eine allgemeine Kultur der Gewalt wider, ob diese nun durch Film und Fernsehen zustande kommt oder durch den verfassungsrechtlich garantierten Zugang zu tödlichen Waffen für den einfachen Bürger. In den europäischen Kulturen, in denen die Todesstrafe im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert abgeschafft wurde, wie in Finnland (1826), den Niederlanden (1850), Belgien (1863), Norwegen (1875), Dänemark (1892) und Schweden (1910), gibt es seither die weltweit niedrigste Anzahl gewaltsamer Todesfälle und Gewaltverbrechen.

Amerikanische Untersuchungen haben gezeigt, dass Hinrichtungen mit großer Publizität keineswegs eine abschreckende Wirkung zeitigen, sondern vielmehr kurzfristig die Zahl der Gewaltverbrechen und Morde anschwellen lassen, weil sie brutalisierend wirken. Auch nach der Hinrichtung von Timothy McVeigh ist Vergleichbares zu erwarten. Nach ersten Anzeichen beginnen nachdenkliche Amerikaner zu erkennen, dass die hohe und steigende Zahl der Hinrichtungen in den USA dem Bild ihres Landes im Ausland ernsthaften Schaden zufügt und ihre moralische Autorität in internationalen Beziehungen untergräbt. Bisher jedoch scheint die gegenwärtige Regierung in Washington auf die Weltmeinung noch weniger zu geben als fast jede ihrer Vorgängerregierungen. Wahrscheinlich wird die Zahl der Hinrichtungen weiterhin steigen.

Zukünftige Hinrichtungen werden vielleicht noch breiter ausgestrahlt als die McVeighs, wenn auch zuvor die Auswirkungen einer Gerichtsentscheidung aus den Achtzigerjahren gegen einen Fernsehsender, der eine Hinrichtung zeigen wollte, aus dem Weg geräumt werden müssten. Daher wird McVeighs Hinrichtung wohl kaum einen Wendepunkt in der öffentlichen Meinung bedeuten. Bevor sich in den Vereinigten Staaten die Einstellung zur Gewalt verändert, muss ein so gewaltiger kultureller Wandel eintreten, dass man sich derzeit kaum vorstellen kann, wie er zustande kommen könnte.

Übersetzung: Meino Büning

Fußnote:

*McVeigh wird aller Voraussicht nach am Montag im Gefängnis von Terre Haute im US-Bundesstaat Indiana hingerichtet –durch eine Giftspritze.

Er hat darauf verzichtet, beim Obersten Gerichtshof der USA Rechtsmittel gegen die Ablehnung eines Aufschubs der Hinrichtung einzulegen. McVeighs Anwälte hatten ihn verlangt, da sie nicht genug Zeit gehabt hätten, nach dem Prozess neu aufgetauchte FBI-Dokumente zu prüfen. McVeigh hat gestanden, am 19. April 1995 den Bombenanschlag auf ein Behördengebäude begangen zu haben. Sein Motiv war Hass auf die Regierung. In der Tatausführung orientierte er sich an den „Turner Diaries“, einem rassistischen Roman über einen Bombenanschlag auf das FBI-Gebäude in Washington.