Der daumengroße gelbe Fleck

Afghanistans Taliban führen Kennzeichnungspflicht für die religiöse Minderheit der Hindus ein. Die Muslim-Mehrheit wird weiter streng überwacht

aus Kabul JAN HELLER

Als am Dienstag in Afghanistan und im benachbarten Pakistan Gerüchte aufkamen, die afghanischen Taliban wollten eine Kennzeichnungspflicht für religiöse Minderheiten einführen, wollte das zuerst niemand glauben. Auch die Betroffenen selbst, eiligst von Journalisten und Diplomaten befragt, wussten zunächst von nichts.

Am nächsten Tag konnten sie es dann mit eigenen Ohren hören: Maulawi Abdul Wali, der Minister für die Förderung der Tugend und für die Bekämpfung des Lasters (so nennt sich der Chef der Taliban-Religions- und -Sittenpolizei offiziell), verkündete im Taliban-Radiosender „Stimme der Scharia“, dass die „Nichtmuslime“ des Landes künftig ein „Unterscheidungszeichen“ mit sich führen sollen. Eine entsprechende Fatwa der Islamgelehrten sei bereits erlassen worden.

Der Minister berief sich auf Beschwerden von „Nichtmuslimen“, die sich „während Operationen von Operativgruppen des Ministeriums Problemen gegenübergesehen“ hätten. Im Klartext: Wer in Afghanistan zu einer der fünf täglichen Gebetszeiten weltlichen Beschäftigungen nachgeht, der läuft Gefahr, bestraft zu werden.

In Restaurants wird fünf Minuten vorher das Licht gelöscht, die Kellner komplimentieren die Gäste hinaus und hängen ein „Geschlossen“-Schild in die Tür. Ladenbesitzer lassen Gitter herunter. Wer das unterlässt, muss mit fünf Tagen Zwangsschließung rechnen und kann sich selbst in Besserungsgewahrsam bei Wasser und Reis sowie Koranunterricht wiederfinden.

Besonders rabiate Ordnungshüter treiben Passanten mit kurzen Riemen oder Kabelenden in Richtung Moschee. Nach einem bisher unbestätigten Bericht aus der afghanischen Hauptstadt ist am vergangenen Montag ein junger Mann dabei am Kopf getroffen worden und verblutet.

Aber offiziell haben die Taliban ihre Maßnahme ja nur gut gemeint. Schläge soll das „daumengroße Abzeichen“, das laut Außenministeriumssprecher Abdul Mannan Hemmat von Hindus in der Tasche – nicht äußerlich – getragen und auf Verlangen vorgezeigt werden soll, ja verhindern. Nachdrücklich dementierte er, dass Hindufrauen fürderhin gelbe Schleier tragen und Hinduhaushalte gelbe Flaggen hissen müssten. Afghanische Hindu- und Sikhfrauen müssen sich ohnehin wie andere Afghaninnen auch verschleiern.

Die neue Vorschrift trifft, trotz der allgemeinen Formulierung, nur die Hindus. Die Sikhs sind ohnehin auf den ersten Blick an ihren speziellen Turbanen und den gezwirbelten Backenbärten zu erkennen. Christen gibt es offiziell nicht, und nur noch ein einziger Jude soll im Lande leben. Die Reaktion der Hindu- und Sikhgemeinde – nach Angaben eines ihrer Kabuler Vertreter landesweit etwa 1.700 Personen, davon 520 in Kabul, wo sie gemeinsame Tempel unterhalten – auf die neue Verordnung ist gemischt. Sie reicht von Gleichmut („das ist kein Anlass zu Besorgnis“) bis zu Ausreiseankündigungen. Die meisten afghanischen „Inder“ haben Verwandte auf dem Subkontinent oder am Golf.

Bei der berechtigten Aufregung über die Verletzung der Minderheitenrechte bleibt in den Reaktionen darauf eines unbeleuchtet: dass die Taliban weiter Muslime, also die große Bevölkerungsmehrheit, prügeln und inhaftieren – Frauen, die sich nicht richtig verschleiern, Männer, wenn es ihnen nur einfällt, ihre Bärte zu stutzen. Auf dem Land und in Kabul träumen viele Afghanen von dem Tag, an dem sie sich wieder rasieren dürfen.