Letzte Blüte

Wanderungen durchs Alte Land: Im Obstbaugebiet beginnt jetzt die Hochsaison  ■ Von Jörn Freyenhagen

„Zur Zeit der Blüte, wenn das ganze Land wie in einen weißen und rosigen Schimmer gehüllt erscheint und ein tausendfältiges wohliges Leben darin summt und schwärmt und jubelt, bietet es einen Anblick dar, dessen eigentümliche Zauberpracht mit nichts vergleichbar ist“: So schwärmte vor mehr als 100 Jahren der Marschendichter Hermann Allmers über das Alte Land.

Noch hat die schönste Zeit des Jahres im größten geschlossenen Obstanbaugebiet Nordeuropas nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Auch wenn drohende Eingriffe in das Naturparadies wie die Airbus-Erweiterung und die Planungen für zwei Autobahnen mächtig auf die Stimmung der Altländer drücken, das gute Geschäft durch den Tourismus lassen sie sich dadurch nicht vermiesen. Wer weiß, wie lange Touristen überhaupt noch kommen mögen.

Blütezeit bedeutet im Alten Land Hochsaison. Wenn das Wetter mitspielt, erwarten Obstbauern und Gastronomen in diesen Tagen einen Ansturm von Gästen aus allen Teilen Norddeutschlands. Vor allem stressgeplagte Hamburger pilgern gern in das Erholungsgebiet vor ihrer Haustür. So viele Blüten auf engstem Raum sind Balsam für die Seele.

Die Kirschen stehen gegenwärtig in voller Blüte. Bei den Äpfeln schreitet die Blüte dank der sonnigen Witterung zügig voran. Nun verwandeln rund acht Millionen Obstbäume zwischen Hamburg und Stade das Alte Land in ein weiß-rosa Blütenmeer. Etwa acht bis zehn Tage hält der Blütenzauber noch an. Würde man alle Obstbäume hintereinander aufstellen, so könnte man noch in San Francisco Altländer Blüten bewundern. Die Reihe würde erst im Pazifischen Ozean enden.

Das Alte Land, umgeben von sanften Wiesen und unzähligen Wasserarmen, bietet ein einzigartiges Panorama: So blicken Besucher, die auf dem Elbdeich wandern, auf vorbeiziehende Seeschiffe auf der einen und auf blühende Obstgärten auf der anderen Seite, wobei immer eine frische Brise weht. Am besten lässt sich das Alte Land auf Schusters Rappen oder per Drahtesel erkunden.

Wer sich für Kultur und Geschichte interessiert, findet mehr als 400 denkmalgeschützte Häuser, die den Reichtum der stolzen Marschbauern widerspiegeln. Auch alte und sehenswerte Kirchen gibt es in fast jedem Dorf zwischen Finkenwerder und Buxtehude. Ihren Wohlstand verdanken die Altländer niederländischen Siedlern, die im 12. Jahrhundert ins Land kamen, die Sümpfe entwässerten und zu fruchtbarem Land machten.

Entlang des Obstmarschenweges oder direkt am Elbdeich locken Ausflugslokale mit Altländer Hochzeitssuppe, Finkenwerder Scholle mit Speckstippe und Kirschpfannkuchen oder Roter Grütze. An den Ständen der Obstbauern können Ausflügler Obst, Konfitüre oder Fruchtsäfte kaufen.

Die Zeiten allerdings, in denen die stolzen Altländer als unnahbar und hochnäsig galten, sind längst vorbei. Sie müssen sich gegenüber der Konkurrenz aus südlichen Obstanbaugebieten behaupten. Darum öffnen die Bauern regelmäßig die Tore ihrer Höfe und schenken den Besuchern gern etwas zum Probieren ein. Gern auch mal den Altländer Calvados. Er wird aus Äpfeln der Sorte „Herbstprinz“ gebrannt.