Der Fluch der bösen Tat

Überleben unter Pol Pot: Mit ihrem literarischen Erstling erinnert Loung Ung an den Genozid in Kambodscha – ein Zeitdokument, das mehr erklärt als ein Geschichtsbuch

Loung Ung lebt heute in den USA, und ist Sprecherin der Kampagne für das Verbot von Landminen

Reist man heute durch das Land Kambodscha, ertappt man sich häufig dabei, dass man anfängt zu rechnen. Der Motorradfahrer in Phnom Penh beispielsweise und die Frau an der Rezeption, sie sind heute um die dreißig Jahre alt. Im April 1975, als die Roten Khmer in der Hauptstadt einmarschierten, dürften sie etwa fünf Jahre alt gewesen sein.

Je nachdem, wer oder was ihre Eltern damals waren, muss die Zeit bis Anfang 1979 für sie ein Martyrium gewesen sein. Die „Befreiungsarmee für ein unabhängiges Kamputschea“ wütete barbarisch. Nach vier Jahren steinzeitkommunistischer Umerziehung und nachdem die Vietnamesen wieder in Kambodscha einmarschiert waren, wurde man erst des ganzen Ausmaßes des Genozids gewahr. Der große Bruder der Khmer rouge, Pol Pot, hatte ein Drittel der eigenen Bevölkerung töten lassen. Seriöse Schätzungen sprechen von zwei Millionen ermordeten Kambodschanern.

Pol Pots besonderer Hass galt Intellektuellen. Und als Intellektueller galt schon, wer lesen konnte. Sem Im Ung war ein Intellektueller, und aus Sicht der Roten Khmer ein äußerst gefährlicher. Bis zum Sturz von Prinz Norodom Sihanouk im Jahr 1970 arbeitete er für den Geheimdienst, dann wurde er vom Marionettenregime Lon-Nols zwangsverpflichtet. Er ist der Vater von Loung Ung und steht im Zentrum ihres ersten Buches. Auch sie zählt zu den heute Dreißigjährigen. Wie alle Einwohner der Hauptstadt musste sie mit ihren Eltern, drei Schwestern und drei Brüdern von einer Stunde zur anderen die Stadt verlassen und in Umerziehungslagern unter menschenunwürdigen Bedingungen Felder bestellen, auf dass Pol Pots steinzeitkommunistische Fiktion eines rein agrarischen Kambodschas Wirklichkeit werde. Viele der „intellektuellen Bauern“ verhungerten jämmerlich.

Den Ungs gelang es mehr als ein Jahr, die Legende aufrechtzuerhalten, man sei eine Bauernfamilie. Ende 1976 allerdings wurde der Vater abgeholt. Kurz zuvor war Loung Ungs neun Jahre ältere Schwester Keav an Ruhr gestorben. Ende 1978 wurde die Mutter zusammen mit der jüngsten Schwester Geak exekutiert. Der Rest der Familie überlebte und trennte sich nach dem Einmarsch der Vietnamesen. Loung Ung gelangte zusammen mit ihrem ältesten Bruder nach Vietnam, von dort als Boat-People in ein thailändisches Flüchtlingslager und dann in die USA. Heute lebt sie in Washington D.C. und ist Sprecherin der „Campaign for a Landmine-Free World“, die als Teil der Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen 1997 den Friedensnobelpreis erhielt. Ihr Erstling zählt zu den Zeitdokumenten, die mehr deutlich machen können als Geschichtsbücher. Das liegt auch daran, dass Loung Ung die Erzählperpektive des fünfjährigen Mädchens wählt und dabei Fragen stellt, die Kinder in diesem Alter stellen.

Ab Ende 1976 muss sich das Mädchen Fragen selbst beantworten. Bis zu seiner Exekution gibt der Vater Antworten, und die können für fantasievolle Mädchen manchmal zum Bumerang werden. In einer der zentralen Episoden etwa isst die kleine Ung eines Nachts einen Teil der spärlichen Reisration, die die Familie für den nächsten Tag bereitgestellt hat. Kaum hat sie ihren Hunger teilweise gestillt, erinnert sie sich allerdings, dass der Vater einmal meinte, der Mensch solle nicht nur gut sein, weil er Angst habe, bei bösen Taten erwischt zu werden. Gut sein solle man alleine schon deshalb, weil man ansonsten im nächsten Leben als Schlange, Wurm oder Schnecke wieder zur Welt komme.

So wie Loung Ung sich erinnert, führen derartige Extremsituationen schon bei kleinen Mädchen dazu, dass sie von der Frage nach dem guten und rechten Leben umgetrieben werden. Beeindruckend an ihrem Buch ist, dass Loung Ung sich etwas von der Seele schreiben musste, trotzdem aber an keiner Stelle selbstmitleidigen Töne einfließen. Im Gegenteil: Sie lässt ein eher wütendes Mädchen sprechen, das überleben will und in der Gefahr lebt, zu früh zu altern. Etwas von dieser Wut transportiert auch der englische Titel „First they killed my father“. In der deutschen Ausgabe wurde daraus „Der lange Weg der Hoffnung“ – wohl in der Hoffnung, Kitsch sei auflagensteigernd. Man sollte Loung Ungs literarische Erinnerungen trotzdem lesen. JÜRGEN BERGER

Loung Ung: „Der weite Weg der Hoffnung“. Aus dem Amerikanischen von Astrid Becker. Argon-Verlag, Berlin 2001, 340 Seiten, 39,90 Mark