Stark durch Nudossi

Zum Glück fiel die Mauer: Der FC St. Pauli spielt am Sonntag um den Aufstieg – dank eines Quartetts aus dem Osten  ■ Von Rainer Schäfer

Es kommt dieser Tage öfter vor, dass man sie unten in den Umkleidekabinen singen hört, wie nach dem 4:1 des FC St. Pauli über Oberhausen. Marcel Rath, Nico Patschinski, Toralf Konetzke und Henning Bürger, das Quartett der ehemaligen Hammer-und-Zirkel-Ki-cker, stimmen am Hamburger Millerntor gerne „Auferstanden aus Ruinen“ an, die DDR-Hymne, die sich so trefflich als Soundtrack zur Saison eignet: In der vergangenen Serie beinahe abgestiegen, steht St. Pauli kurz vor dem Aufstieg.

Im Vier-Mann-Sturm setzt Trainer Dietmar Demuth mit Marcel Rath, Nico Patschinski und Toralf Konetzke auf drei sozialistisch geschulte Stürmer, die allesamt bei ihren früheren Clubs keine Rolle mehr spielten: Konetzke und Rath kamen in Cottbus nicht mit dem „Verrückten“, mit Eduard Geyer klar, Patschinski in Fürth nicht mit Benno Möhlmann. Am Millerntor, dem Reha-Camp für Geschasste, Gescheiterte und Verkannte, „können sie es allen Zweiflern zeigen“, so Demuth.

Vor allem Rath ackert wie aufgezogen und liegt mit 15 Treffern ganz vorne bei den Zweitliga-Torjägern. „Im Training schießt er Vögel ab“, wundert sich Kapitän Holger Stanislawski, „im Spiel nagelt er die Dinger unter die Latte.“ Die eigenen Ressourcen schont Harry das Kampfschwein, wie er beim FC gerufen wird, auf dem Feld nie. Oft fit gespritzt, muss der Fußball-Masochist aus Frankfurt/Oder „immer wühlen und vorne voll druff“ im Pressing-orientierten System. „Der geht mit dem Kopf dahin, wo andere nicht mal den Fuß hinhalten“, wunderte sich Jürgen Röber, Trainer bei Raths erster Profistation Hertha BSC.

Wenn einer die Sehnsucht des selbstbestimmten Fans nach Identifikation und Intensität im Fußball stillen kann, dann der 25-Jährige. Harry tritt immer auf, als wirke er im allerletzten Spiel mit, als sei es die größte Adelung, ausgepumpt auf dem Spielfeld liegen zu bleiben. Wenn erforderlich, für immer. Oft muss Rath unfreiwillig „Blut spenden. Mich hat noch keiner Weichei genannt“, weiß der überzeugte Fleischesser, der sich privat unbeschwert gibt. Wenn der Nachbar mal wieder Udo Jürgens' „Griechischen Wein“ bis zum Anschlag aufdreht, hat Rath damit „keen Problem. Ist doch schön, wenn alle mitsingen können.“

Rath steht mit dem Ostberliner Patschinski auch für mentale Entspanntheit in einem Verbund, der letztes Jahr noch bis zur Selbstaufgabe an sich zweifelte. „Wir Ossis genießen das Leben mehr, im Späßemachen sind wir ganz weit vorne. Nach St. Pauli kommt man schließlich nicht, um Millionär zu werden, sondern um Freude am Fußball zu haben.“ Bei Benno Möhlmann kam Patsches Witz, der in der „DDR stark wurde mit viel Himbeerbrause und Nudossi“ – dem ostdeutschen Nutella – nicht an: Als der 24-Jährige in der Franken-Kabine den Zeitungsartikel „Benno Bratwurst – alles Banane?“ auslegte, hatte der Spaß ein Ende. „Möhlmann meinte, dass noch sieben Stürmer vor mir wären. Dabei hatten wir gar nicht so viele.“ In Hamburg darf die sprunghafte Ulknudel mal Fische in den Schuhen der Kollegen verstecken, ohne gleich mit Suspendierung rechnen zu müssen. Oder mit Spezi Rath – „wir sind wie Yin und Yang, die Vollendeten“ – am Handy die unvermeidlichen Sportwetten platzieren. Gewettet wird ohnehin ohne Unterlass: ob der nächste Elfer im Training sitzt. Oder ob es gleich anfängt zu regnen.

Wenn ohne Maß gealbert wird, greift Henning Bürger korrigierend ein. „Dann sag ich, wann Schluss ist.“ Der 31-Jährige, für Schalke und Nürnberg in der ersten Liga im Einsatz, ist ein Vorzeigeprodukt der Schulung in sozialistischen Fußball-Internaten: „perfekt ausgebildet“, so Demuth, immer im Einsatz für das Team. „Wir sind mehr die Herdentiere, die das eigene Ego zurückstellen.“ Der Mittelfeldspieler strahlt die innere Kraft und Ruhe aus, die eine Kindheit in Thüringen hervorbrachte: „Draußen schneite es, auf dem Fernsehschirm kämpfte Gojko Mitic, der Winnetou des Ostens, für das Gute.“

Gerne in der DDR zu Hause war auch Toralf Konetzke. „Das Leben war viel ruhiger und die Zukunftsängste nicht so groß wie heute.“ Auf St. Pauli hat der 28-Jährige, dem nach einer Stoffwechselkrankheit die Haare ausfielen, schnell herausgefunden, dass er „jetzt zu den Zecken gehört“. Wenn Conny sentimental wird, geht er auch mal in den Keller, wo die alten DDR-Briefmarken lagern – bevorzugte Sammelgebiete: Sport und Tiere –, „Symbole einer schönen Zeit, die man nicht mehr hergibt.“ Auf dem Platz schaut Konetzke nur nach vorne: „Er wühlt wie Rath“, lobt Demuth, der weiß, was er am „Leistungswillen“ seiner Ostkicker hat: „Die wissen wie man Spaß und konzentriertes Arbeiten erfolgreich verbindet. Ich bin ja selber einer.“ 1957 kam Demuth aus Halle nach Hamburg, als Zweijähriger.