Briefe unterm Baum

■ Am Sonntag wird der Jeanette Schocken Preis an Barbara Honigmann vergeben

In Sprache und Atmosphäre ist das neue, sechste Buch von Barbara Honigmann so unglaublich altmodisch, dass man nicht weiß: soll man's lieben oder ablehnen. Der Name der transusigen Heldin: Anna Herzfeld. Und dann der Titel: „Alles, alles Liebe“, ambivalent – halb euphorisch, halb Abschiedformel – und doch irgendwie Kitsch. Es ist ein Briefroman, jene Form des Zeitalters eines neuentdeckten Subjektivismus, also Sturm und Drang und Romantik.

Fasziniert uns heutzutage etwa bei den „Leiden des jungen Werther“ diese hochgezüchteten brütenden Gefühlswelten in Reifrock und gelbem Frack, so haben die seitenlangen melancholiedurchtränkten Liebesschwüre von Anna und Leon heutzutage einen Hang zum Nervigen. Oder soll man Honigmann verehren für ihren brutalen Ironie- und Humorverzicht? Freundschaften sind „zärtlich“, die Bäume unter denen man sitzt sind Birnbäume, gemalt wird mit Sepiafarben – die Welt des traurig-sensiblen Hoffräulein Marie Ebner-Eschenbach, ohne Autoabgase, Supermärkte, Diskos – wär da nicht die Stasi.

Die Presse lobt das subtile Bild, das Honigmann von der Kleinbürgerlichkeit der DDR zeichnet, aber eigentlich hakt sie nur die sattsam bekannten Punkte ab, etwa die Floskelverseuchtheit von Betriebsversammlungen. Das Komödiantische von „Sonnenallee“ fehlt manchmal sehr. Wir befinden uns im staubigen Jahr 1975, und dann ist Anna auch noch Jüdin und auch noch Künstlerin, Schauspielerin, festgezurrt in den knöchernen Strukturen eines kleinen Stadttheaters. Das ist dann ein einziges langes 173-seitiges Leiden von fünf, sechs Schöngeistigen an einer grobschlächtigen Welt. „Das schlimmste ist, dass wir alle so vereinzelt sind.“

Warum heißen die Personen eigentlich nicht Arnim, Tieck, Schlegel, Varnhagen? Und auch das Verständnis von Theater als moralische Anstalt: fast liebenswert antiquiert. bk

Preisverleihung mit Laudatio (Marion Titze) und Musik (Isang Yun) am Sonntag, 6. Mai, 11 Uhr im Morgenstern Museum; Lesungen: 7. Mai Barbara Honigmann, 8. Mai Yoko Tawada, 9. Mai Wladimir Kaminer, 10. Mai Feridun Zaimoglu, 12. Mai Zé do Rock, jeweils 20 Uhr im Pferdestall mit Einführung