Die Süchte des Sehnens, getanzt

■ Die Regisseurin Konstanze Lauterbach versteht es, bei der Premiere von „ARMuT“ im Schauspielhaus in die absonderliche Welt des Hans Henny Jahnn hineinzuziehen. Ihr Mittel: die Sprache zeitgenössischen Tanztheaters

„Was soll das?“, meinte einer nach zweieinhalb Stunden verhinderten Eros, „die Kindsmord-Tragik ist spätestens mit Fausts Gretchen durch. Heute haben wir geregelte Adoption und Kinderklappe.“ Welch Missverständnis. Das Grandiose an Hans Henny Jahnn war immer, das er eben nicht (oder nur bedingt) unsere schnöde Wirklichkeit widerspiegelte, sondern in den klaustrophobischen Kosmos eines verkarsteten Inselbewohners hineinlockt – den Hamburger Jahnn zog es immer wieder ins Abseits, sogar mal zwölf Jahre auf die dänische Insel Bornholm, und in Hamburg verbrachte er seine Zeit auf entrückten, sonnenfernen Kirchenemporen als Orgelbauer. Und da Jahnn wie Joyce, Arno Schmidt et cetera von Freud beeindruckt war, ist dieser düster-schillernde Kosmos voller Inzest, Ödipus, einer Homosexualität, die noch richtig weh tut, schräggestellter Herr-Knecht-Liebschaften, schräggestellter Jung-Alt-Liebschaften, immer schuldbehaftet. „Ihr habt die Entartung weit getrieben.“ Neben der verquast-psychoanalytischen Komponente haust das Märchen: Einsiedlerpathos, Trolle und Träume, Elfen und Elend, an-esoterisierte Utopien, Archaisches und Fantasmagorisches; sein wie ein Baum, wie ein Stein, und „den Wind verstehen, der um die Seele streift“. (Allerdings war Jahnn mit seinem bedingungslosen Pazifismus und – in den 60ern – mit seinem Kampf gegen Atomwaffen doch realitätsbewusster als gar mancher Realo heutzutage.)

Hauptfigur in „Armut, Reichtum, Mensch und Tier“ (ARMuT) ist Maneo Vinje, ein reicher Bauer, der in die innere Emigration eisiger Berghöhen entstiegen ist, „hoch eingeschlossen“ – schließlich wurde das Stück 1933/48 geschrieben. Maneo verliebt sich in die arme Sofia Fuur; und zwar bei einem flüchtigen Blick herab, nach unten, vom Pferde – auch in diesem Stück verstrickt sich Jahnn wie in allen anderen Theaterstücken und Romanen heillos in seinen esoterischen Pferdemythos. Sofia Fuur verliebt sich just in derselben Sekunde in Manao Vinje. Klasse. Nach zehn Minuten könnte „ARMuT“ zu Ende sein, REICH, und wir gehen beglückt zum Saufen an die Weser. Ist aber nicht; weil diese quasi schicksalsgefügte, quasi heilige, quasi makellose Liebesgeschichte ,verunreinigt' wird durch die Begehrlichkeiten anderer; der des Knechts Gunvald, des Knechts Ole, der reichen Bäuerin Anna – und schon sind wir mittendrin in jenem Kosmos aus Blut, Tränen, Gebären und ständigem Verfehlen: Paare (und bei Jahnn natürlich immer auch Dreiecksbeziehungen) bilden sich zuhauf. Und es sind immer die definitiv Falschen.

Regisseurin Konstanze Lauterbach soll die ungefügigsten, märchenhaftesten Stellen gestrichen haben. Schade. Jedenfalls ist dieses „ARMuT“ irgendwie handsamer als die so wunderbar delirierenden, auslappenden, in Stern'scher Manier dahintorkelnden und nach Joyce'scher Art bewusstseinsströmernden Prosatexte, die etwas bekannter sind – „Perrudja“, „Fluss ohne Ufer“ (2.200 Seiten, kein Mensch hat's ganz gelesen). Maneos guter Geist, Troll Yngve mit seinenschwarzen Stummelflügeln, ist der einzige Überlebende aus dem Reich der Märchenwesen. Macht aber nichts. Denn zur Entgeltung dieser Glättung stürzt sich Lauterbach absolut enthemmt mitten hinein ins Dauerpathos.

Dass man Jahnn nicht – etwa á la Bischoff oder Kresnik – unterkühlen beziehungsweise gegenbürsten kann, liegt klar auf der Hand. Aber wie ist dieses archaische Gefüge aus Eifersucht, Schuldgefühl, Buße und Sühne ernstzunehmen? Lauterbachs überzeugende Antwort: Mit den Mitteln des modernen Tanztheaters. Die fünf HauptprotagonistInnen – also die zwei füreinander Bestimmten und die drei Störer – schmettern einander gegen Wände, werfen sich zu Boden, führen Schlangentänze mit ihren Armen auf, grätschen Beine, strecken fette Wampen raus, dehnen, biegen, kauern, krümmen sich. Frauen springen Männer an, Männer schleppen Frauen ab, wortwörtlich, aber immer in Stilisiertheit und Finesse des Tanztheaters. Wenn die ,gefallene' Sofia von ihren Eltern geächtet wird und Jahnns Sprache versagt, beginnt Lauterbachs Arbeit. In einer komplexen Choreografie wird Sofia von ihren Eltern gestützt, gezerrt, getreten, geschleppt. Zum Glück gönnt Lauterbach gerade dem eifersüchtigen, mörderischen, intriganten Biest Anna (hervorragend vom Zickigen zum Melodramatischen hin- und herwechselnd Henriette Cejpek in ihren makellosen Festtagsgewändern, die hohe Stirn hochreckend) besonders spektakuläre Auftritte; schließlich ist in vielen Jahnn-Texten eine zentrale Botschaft, dass auch bodenlose Gemeinheit ihre Leidensquelle hat, also verziehen werden muss. Besonders geniales Nitzscheanisches Übermenschentum: Gunvalds ekelt sich vor ihrem Vernichtungswerk – und sie ekelt sich vor seinem kleinbürgerlichen Ekel – super gespielt.

Kontrapart Sonja – ebenso genial Tanja Schupnek – brilliert dagegen in Sachen Verletzlichkeit. Wie sie auf einem Kickboard das heilige, gefählte rote Rind als sterbenden Schwan gibt oder ohne Bodenhaftung auf Krücken ins Ätherische wegdriftet, qualifiziert sie zur Tänzerin. Und sogar die extrem querständige Besetzung des ältlichen Maneo Vinje durch den jugendlichen, bezopften Thomas Ziesch haut hin. Schrammt er sonst als naiv-cooler Jüngling oft arg am Klischee entlang, gelingt ihm hier das kauzig-melancholische Unschuldslamm vollkommen. Dasselbe gilt für den Rest des Ensembles. Und lustig ist, dass ausgerechnet der weise, über allen Verwicklungen schwebende Troll Yngve mit Peter Pagels sanftem Sarkasmus aufgeladen wird. Selbstverständlich ist Stefan Heynes Bühnenbild abstrakt und gibt mit kubistischen Stellwand-Verkantungen, Freeclimbingwand und biomorphen Bändern Raum für diese Welt suchtartig-verführerischer Sehnsüchte. Wenn's eine halbe Stunde kürzer wäre, könnte man sagen: vollkommen. bk

12., 16., 20., 27. Mai, 20 Uhr, Einführung jeweils 19.30 Uhr