Wissenschaftler warnen: Tschernobyl verharmlost

Internationale Atomenergieagentur soll mit „ausgewählten Wissenschaftlern“ das tatsächliche Krebsrisiko nach der Katastrophe verschleiert haben. Grüne fürchten Renaissance der Atomkraft

BERLIN ap/dpa/taz ■ 15 Jahre nach der Kernschmelze im Reaktorblock IV des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl ist der Streit um die Folgen des Unglücks wieder aufgeflammt. Der Münchner Strahlenbiologe Edmund Lengfelder warf gestern der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) vor, die Folgen von Tschernobyl zu vertuschen. „Bis Ende 2000 hat es 7.500 Fälle von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland gegeben“, sagte Lengfelder. „Fünfmal mehr“ als vor der Reaktorkatastrophe. Die IAEA sei dagegen 1991 „mit ausgewählten Wissenschaftlern“ zu dem Ergebnis gekommen, dass der erhöhten Strahlenbelastung keine Krankheiten zugeordnet werden könnten. Der Münchner Medizinstatistiker Alfred Körblein legte eine Studie vor, nach der auch in Deutschland die Kindersterblichkeit nach dem Atomunfall um fünf Prozent zugenommen habe. Nach dem Abgleich mit neuen Daten aus Polen, Weißrussland und der Ukraine zeige sich ein „hoch signifikanter Zusammenhang zwischen der Strahlenexposition des Embryos durch radioaktives Cäsium und der Perinatalsterblichkeit sieben Monate danach“. Körber, der die Studie zusammen mit den „Internationalen Ärzten zur Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) vorstellte, wurde von anderen Wissenschaftlern für diese Schlussfolgerungen heftig kritisiert.

Für Umweltminister Jürgen Trittin, dessen Ministerium als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe 1986 gegründet wurde, ist der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland „die wichtigste Lehre aus Tschernobyl“. Der Konsens vermindere überdies die Atomtransporte auf ein Drittel. Dies war jedoch mehreren hundert Menschen nicht genug, die gestern gegen die Wiederaufnahme der deutschen Atommülltransporte ins britische Sellafield demonstrierten. Für wirtschaftlichen Druck auf die AKW-Betreiber sprach sich Ellis Huber vom IPPNW-Vorstand aus: Die Haftpflichtversicherung für die Schäden eines GAU, die nur Schäden bis 5 Milliarden Mark abdecke, sei viel zu gering, die Schäden würden sich bei einer Kernschmelze auf das Tausendfache beziehen. Diese Forderung hätten bisher rund 75.000 Menschen unterzeichnet.

Derweil werden in den USA die Betriebsgenehmigungen alter Atommeiler verlängert. Der grüne Umweltexperte Reinhard Loske sieht „die Gefahr einer Renaissance der Atomkraft“. Sie sei allerdings mehr „ideologisch herbeigewünscht als wirtschaftlich rational“. BPO/URB

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