Historischer Mikrokosmos

■ Nach 130 Jahren ist die Bremische Chronik des Staatsarchivs jetzt zum letzten Mal erschienen / Historisches „Perlentauchen“ in den Jahrgängen 1981 bis 1986

Knappe, nüchterne Prosa, die ungeschmückten Sätze in strenger chronologischen Abfolge – das ist nicht die Fahrplanauskunft der Deutschen Bahn, sondern die „Bremische Chronik 1981-1986“. Nicht gerade ein Renner für den Buchmarkt, wird sich so mancher beim Überfliegen der 242 Seiten mit dicht- und kleingedruckten literarischem Trockenfutter denken. Unterhaltung war auch keinesfalls die Absicht des Historikers und Autors Reinhard Patemann, der nun zum vierten – und vermutlich letzten – Mal in mühevoller Kleinarbeit alle großen und kleinen Ereignisse der Bremer Stadtgeschichte in Buchform zusammengefasst hat.

Es ist also unwahrscheinlich, die gestern vorgestellte Chronik direkt neben Rosamunde Pilcher in den Regalen der Stadtbibliothek zu entdecken. Trotzdem, Unterhaltung finden diejenigen, die sich auf historische Perlensuche begeben wollen, allemal. Da wäre zum Beispiel Seite 233: Mit ihrem unvergesslichen Topfschnitt erfreute Mireille Mathieu im Oktober 1986 das Bremer Publikum in der Stadthalle.

Nur wenige Tage zuvor, am 1. Oktober, findet sich folgendes, geschichtsträchtiges Datum: „Die Tageszeitung (taz) erscheint ab sofort mit einem Bremer Lokalteil“, nicht mehr und nicht weniger erfährt der Leser. Geschichte wird hier nicht erzählt, sondern gesammelt. Die Zusammenhänge müssen selber geknüpft werden, was sich im taz-Beispiel als kleine Enttäuschung entpuppt – mit nur einer einzigen Notiz zum Thema.

„Man darf das Buch nicht wie einen Roman von vorne anfangen“, korrigiert Patemanns Nachfolger Günther Rohdenburg alle voreiligen Versuche, beim ersten Durchblättern wichtige Geschichtshäppchen aufzuschnappen. Ein ausführliches Schlagwortregister auf den letzten Seiten hilft, Geschichtspfade zu entdecken, um nicht in der endlosen Bleiwüste zu verdursten.

So läßt sich nach gezieltem Nachschlagen die erste Hälfte der 80er Jahre als eine Phase des Bremer Um- und Aufbruches verfolgen: Die Schließung der AG Weser, die Massenproteste der Gewerkschaften und der erste Spatenstich des Bremer Innovationszentrums (BIZ) im Jahr 1985 sind Wegmarken einer allgemeinen wirtschaftlichen Umstrukturierung Bremens vom Hafenstandort zum Technologiezentrum. Und, man denke noch an klobige Bildschirme und Commodore-Tastaturen: Im Dezember 1986 konnten Bremer Beamte ihren ersten PC bestaunen.

Seit 1851 hatten sich die staubigen Etagen des Bremer Staatsarchivs kontinuierlich mit derartigem historischen Grundstoff gefüllt. Mit Schere und Prittstift wurde in liebevoller Bastelarbeit für wertvoll befundenes Zeitungsmaterial geschnippelt, aufgeklebt und nach einem strengen numerischen System in Mappen einsortiert.

Damit ist seit 1987 jedoch Schluss. Kein Geld, kein Personal – und, wie der Leiter des Archivs, Adolf Hofmeister, bedauert, keine Zukunft.: „Die vorliegende Chronik wird auch die letzte sein.“ Neue Träger sind noch nicht in Sicht. Seitdem türmen sich die angegilbten Zeitungen mit den rot angekreuzten Texten in den Regalen. „Ich dachte, ich könnte das mit der Chronik so nebenher machen“, erklärt Rhodenburg.

Allein für den mechanischen Dienst des Schnippelns und Klebens müssten mindestens zwei Mitarbeiter angestellt werden. Patemann war nach 30 Jahren Dienst der letzte unter den fleißigen Stöberern und Sammlern. Und, was die wenigsten vermuten: Neben dem Dienst in den unlyrischen, funktionalen Räumen des Archivs wendete sich Patemann in seiner Freizeit der Dichtkunst zu. Ina Stelljes

Patemann, Reinhard, 2001, „Bremische Chronik 1981-1986“, Selbstverlag des Staatsarchivs Bremen, 396 Seiten, 45 Mark.