juttas neue welt
: Kleingeisterei

Beinahe hätte ich einen guten Freund verstoßen. Wegen einer Kleinigkeit. In seiner E-Mail, die mich vor ein paar Tagen erreichte, schrieb er doch glatt „Hallöchen“ ins Betreff-Feld. Ich war außer mir. Der Arme, er konnte ja nicht ahnen, dass ich in den letzten Tagen eine Allergie gegen Verkleinerungen ausgebrütet hatte. Dabei fing alles ganz harmlos an. Als ich gemeinsam mit einem Kollegen ein Programm aus dem Netz runterladen wollte, sagte er plötzlich: „Das dauert ein Weilchen. Soll ich ein Käffchen holen?“ Doch damit war sein sprachlicher Kleinkram noch nicht ausgeschöpft. Auf dem Nachhauseweg fragte er entsetzt: „Wo ist denn das Sönnchen hin verschwunden?“ Ich erwiderte nichts, klappte mich bloß achselzuckend in meinen Fiat – der Einzige der Anwesenden, der die Verkleinerungsform tatsächlich verdient hätte – und fuhr verwirrt nach Hause.

 Seitdem geht in meinem engeren Sprachraum der Diminutiv-Fuchs um. „Lasst uns ein Sektchen trinken“, tönte neulich ein Kleingeist auf einer Party. Ein anderer war noch untertriebener und wollte feucht-palatal mit einem Bierchen anstoßen. Und vermittelte mir, die kein speicheliges chen an alkoholische Getränke dranmoppelt, das Gefühl, auf dem besten Weg zur Erstliga-Säuferin zu sein. Schließlich war mein Glas randvoll. Suff statt Suffix. Das ertrug ich nicht länger. Auf dem Nachhauseweg wünschte ich mir, dass Pilze so aus dem Boden schössen wie sinnlose Wortminiaturen.

 Nach weiteren Begegnungen mit chen-Buddhisten kam mir die Aldi-Kassiererin gerade recht. „Wollen sie Ihr Zettelchen nicht?“, fragte sie ahnungslos und wunderte sich, dass sich kreisrunde krebsrote Flecken auf meinen Wangen bildeten und ich eine Dose grobe Leberwurst nach ihr warf. Es folgte ein Platzverweis, und ich musste im Supermarkt gegenüber einkaufen. Doch auch dort war ich nicht sicher: Neben dem Kühlregal baumelten „Hosensöckchen“. Wenn Hosen schon Socken tragen müssen, wieso unbedingt kleine? Resigniert kaufte ich jedoch zwei Paar für einen Preis. Ich fühlte mich eingeengt. Und wollte nur noch weg aus dieser Welt der kleinen Dinge. Ich sehnte mich nach etwas Großem. Nach etwas Bedeutsamen. Nach Weite. Also flüchtete ich ins Internet.

 Sofort ging es mir besser. Vor allem, nachdem ich in einem interaktiven Text-Netzwerk unter www.assoziations-blaster.de einige Leidensgenossen getroffen hatte. Dort schrieb zum Beispiel eine gewisse Flora, die Verkleinerungsform sei „ein verbales Kindchenschema“. Das gefiel mir gut. Gleichzeitig fühlte ich mich in den endlosen Weiten des Webs sicher vor neuen Niedlichkeits-Attacken. So lange zumindest, bis eine einzige Schlagzeile mein Wohlgefühl zunichte machte: „Das Internet ist zu klein.“ Zu klein? Das große Netz? Bloß weil nicht jeder Grashalm eine eigene Homepage haben kann? Ich war umzingelt. Und sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis mein Hörnerv zum ersten Mal das Wort „Internetzchen“ über sich ergehen lassen muss. Oder Cyberspacelein. Ich gab auf und beschloss, allen Kleinigkeiten in Zukunft mit Größe zu begegnen. Als gestern der Kollege mit Liebe zum Detail fragte, ob wir zusammen ein Päuschen machen, musste ich zwar tief durchatmen, erwiderte aber schließlich gelassen: „Unter einer Stunde mach ich’s nicht.“ Und über seine alles andere als kleinen Augen lachte ich mir – ganz ch-neutral – in die Faust. JUTTA HEESS

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