Alltägliches im Extrem

Porträt eines Sohnes als schwarzes Schaf: Der exiliranische Schriftsteller Said beschreibt lakonisch „Landschaften einer fernen Mutter“. Ein Buch des Abschiednehmens von den Familienbanden

insgesamt neun geburten.lese- und schreibkundig. keine eigene sprache. der duktus mit pathetik, selbstmitleid und füllwörtern gespickt.

von MARKUS EPHA

Es geht um Ferne und Nähe, Exil und Heimat, um die Verluste dessen, was oder wen man liebt. Und es geht um die meist vergeblichen Versuche, Spuren zu suchen, Anhaltspunkte zu bekommen, wiederzufinden.

Der Erzähler trägt den Dichternamen Said, wurde 1947 in Teheran geboren, lebt im Exil. Erst in Paris, dann in München. Kurz nach dem Sturz des Schahs kehrte er in den Iran zurück, um seine Hoffnungen getäuscht und kurze Zeit später zahlreiche politische Weggefährten hingerichtet zu sehen im neuen, diesmal pseudoislamisch motivierten Blutbad. Sein Ausweis ist „lediglich zu dem zweck ausgestellt, dem inhaber als reiseausweis an stelle eines nationalen reisepasses zu dienen“. Der Inhaber schreibt seine Literatur auf Deutsch. Und er sucht seine Mutter. Bewusst ist er ihr nur einmal begegnet – nach der Scheidung der Eltern, die schon während der Schwangerschaft stattfand. Er weiß wenig über sie, resümiert: „insgesamt neun geburten. lese- und schreibkundig. [...] keine eigene sprache. der duktus mit religiösen formeln gespickt, mit einer neigung zu pathetik, selbstmitleid und füllwörtern.“

Ein Rapport, um sich zu vergewissern. Knapp, um Sachlichkeit bemüht. Um die Mutter-Sprache zu unterlaufen, um den Wechselbädern der Gefühle Herr zu werden. Er trifft die Mutter auf neutralem Boden, in Kanada, für drei Wochen im Mai 1990. Bei einem ihrer Söhne. Nie verlässt sie die Wohnung, nie weint er in ihrer Gegenwart. Die Engführung des gegenseitigen Unverständnisses überträgt sich auf den Leser, gerade an den Stellen, da der Sohn den Körper der Mutter mit Blicken abtastet und die Unterlassung der Berührung konstatiert. Im Buch duzt er sie, in der geschilderten direkten Rede bleibt es seinerseits beim Sie. Er, der Sohn eines Schah-Leutnants, ohne Auto, ohne Ehefrau und mit nur einer Einzimmerwohnung im Eldorado Europa, er ist das schwarze Schaf der Familie, das an einer Stelle von sich selbst sagt: „inmitten dieser götter, revolutionäre, brüder und ihrer blutfontänen – ich, allein. ohne partei, ohne ein klar umrissenes credo. ohne zuhause. ohne arbeit. historisch verwirrt, seelisch dezimiert, praktisch lahmgelegt, und mit viel angst. nicht vor der zukunft, sondern vor der gegenwart.“

Said überwindet seine Angst mit ihrer Benennung, mittels der Sprache, der Literatur. Er vergewissert sich. Tastet. Zögert. Zuckt zurück. Und er findet eine Ferne, die jenseits der Kilometer Mutter und Sohn trennt.

Eine Familiengeschichte. Der Bericht von mehreren Formen des Exils, die sich ablösen, überlappen. Und von der Schwierigkeit, Freundschaft aufrechtzuerhalten oder Hoffnung. Von der Politisierung des Sohnes im Zuge der 68er-Unruhen, der Enttäuschung des Vaters, den unterlassenen Fragen der Mutter.

Zehn Jahre ließ Said das Manuskript liegen, das Protokoll führt über dieses dreiwöchige Treffen zwischen Mutter und Sohn, diese zweite und zugleich letzte Begegnung. Im Epilog nimmt er dann endgültig Abschied, wird aus der persönlichen Geschichte ein literarischer Stoff, distanziert er sich von den Verstrickungen in Familienbande und Herkunft:

„denn ich wußte: dieses buch bedeutet den abschied von einer mutter, die ich kaum kennengelernt habe [...] ein abschied von dir und meinem land. beides habe ich geliebt, auf meine weise. beides wurde mir mit der zeit unzugänglich gemacht. durch die geschichte. aber auch durch die biographische entwicklung – als ob letztere von der geschichte unberührt bleiben könnte.“ Mittlerweile ist Said Vorsitzender des deutschen PEN. Und der Erzähler hofft am Ende des Buches auf eine Liebe, die länger währt und einen fassbareren Körper hat als die Mutter- und Vaterlandsliebe, die ihm unmöglich gemacht wurde.

Ein lakonisches, manchmal komisches, oft beherrscht trauriges Werk. Schmucklos im Ausdruck scheint immer wieder der Wunsch durch, aus der Haut zu fahren, ein anderes, ein Wunschleben überzustreifen. Doch die Verhältnisse, sie waren und sind nicht so. Traumprotokolle, Überschriften, die vom Auf- und Abgehen in der Wartehalle des Flughafens, am Schalter Zeugnis ablegen; vom mütterlichen Haar, der Einladung zu einer Tasse Tee. Alltägliches in einer extremen Situation. Und das Wenige, das gewiss ist, das gesagt wird, lässt Freiräume zu; diese für Leerstellen, Abgründe oder Möglichkeiten zu halten, ist Sache des Lesers.

Said: „Landschaften einer fernen Mutter“. C. H. Beck Verlag, München 2001. 117 Seiten, 28 DM