Der ganz reale Postkolonialismus

Mit präzisem Blick: Die Dokumentation „Vacances aux Pays“ und der Spielfilm „Fragments de Vies“ – zwei Bestandsaufnahmen des modernen Afrika

von BARBARA SCHWEIZERHOF

Im Grunde eine einfache Idee: mit der Filmkamera die Stätten der Kindheit zu besuchen, um über das Früher und das Heute nachzudenken. Natürlich stellt man sich das Ergebnis mehr oder weniger sentimental vor – unabhängig davon, wo man die Kindheit verbracht hat. Der aus Kamerun stammende Filmemacher Jean-Marie Téno hat mit diesem Konzept einen Dokumentarfilm ohne jede Sentimentalität gedreht; der subjektive, erinnerungsgeleitete Blick dient ihm nicht als Mittel zur Introspektion, sondern dazu, auf betont undramatische Weise den ganz realen Postkolonialismus zu veranschaulichen. Dabei gelingt es ihm, den zugleich überladenen und entleerten Begriff wieder in einen konkreten und damit auch politischen zu verwandeln.

Téno hat seine Kindheit in Yaoundé, der Hauptstadt Kameruns verbracht. Mit dem Anliegen, dass ihre Kinder es einmal besser haben sollten, waren seine Eltern vom Dorf in die Stadt gezogen, als die vormalige französische Kolonie unabhängig wurde. Zu Beginn des Films führt Téno den Zuschauer zu einem verwahrlosten Gebäude – es ist das Gymnasium, in das er 1965 eingeschult wurde und das immer noch den Namen des französischen Generals Leclerc trägt, der die „Söhne Kameruns“ in den Zweiten Weltkrieg führte. Was hier gelehrt wurde, war auch nach der Unabhängigkeit der französische Bildungskanon.

Nicht ohne Bitterkeit erzählt der Autor aus dem Off von der Zwiespältigkeit dieses schulischen Erbes: Wissen angehäuft zu haben, dass damals den Anschluss an die Welt versprach, sich aber für den afrikanischen Alltag als größtenteils nutzlos herausstellte und darüber hinaus genau dieses Gefälle zwischen Afrika und Europa in Form einer verinnerlichten Selbstverachtung zementiert hat.

Das ist der verzwickte Ausgangspunkt, von dem aus Téno sich auf die Erinnerungsreise zum Dorf seiner Großeltern begibt, wo er einst regelmäßig die Schulferien verbracht hat. Er kehrt als Außenseiter zurück, denn er selbst ging zum Studieren nach Frankreich. Die Beobachtungen auf seiner Fahrt sind unterbrochen von legalen und wilden Straßensperren, von der Begegnung mit machtvollen, aber handlungsarmen Bürokraten, und verlangsamt vom Zustand der Straßen abseits der Hauptverkehrsadern. Sie verdichten sich zu einem Bild jener „tropischen Modernität“, die Téno in seinem Film mit Bitterkeit geißelt.

Die „tropische Modernität“ findet ihren Ausdruck darin, dass Coca-Cola bis ins hinterste Dorf gedrungen ist, wo Wasser immer noch vom Brunnen geholt wird und es zehn Jahre dauern kann, bis auch nur ein einziges Drahtseil repariert wird, selbst wenn davon die Prosperität einer ganzen Region abhängt. Téno lässt keinen Zweifel daran, dass es für ihn die „falsche“ Modernität ist, die hier erreicht wurde – dass statt jener Moderne, die für die Verbesserungen der Lebensbedingungen steht, jene gesiegt hat, in der allein der Konsum das Handeln bestimmt.

Die potenziell modernen Institutionen, die in der afrikanischen Tradition bereits vorhanden waren – die gemeinschaftlichen Aussprachen und Arbeiten – sind dadurch ins Abseits geraten. Der Kongress, früher von den Dorfbewohnern ausgerichtet, um den Kontakt zur in die Stadt abwandernden Jugend nicht abreißen zu lassen, ist heute zur reinen Kirmes verkommen.

Motive dieser Bestandsaufnahme der tropischen Moderne lassen sich in François Woukoaches Spielfilm „Fragments de Vies“ wiederfinden. Auch Woukoache kommt aus Kamerun, auch er ging nach Frankreich, gehört aber einer anderen Generation an: Er ist im Jahr nach Ténos Einschulung geboren. Der Schauplatz seiner „Fragmente“ ist absichtsvoll unbestimmt: Irgendwo in Äquatorialafrika. Sein Blick auf die Zustände ist umso präziser: Da ist der sture Pförtner, der aus Respekt vor seinen Vorgesetzten niemanden zu ihnen lässt. Da ist der Arbeitslose, der sich dem sozialen Abstieg nicht entziehen kann. Und da ist die Bordellbetreiberin, die vordergründig devot und hintergründig frauensolidarisch einen Rachemord deckt. Sie illustrieren unterschiedliche Facetten eines Alltags, der wegen seiner extremen Widersprüche kaum als solcher gelebt werden kann.

Die „Fragmente“ sind betont einfach erzählt, fast mit der Zurückhaltung eines Dokumentarfilms, Szenen und Dialoge besitzen die Leichtigkeit der Improvisation. Hier wird kein Mitleid und noch nicht einmal Einfühlung in die Figuren gefordert; Woukoache präsentiert seine Geschichten unpsychologisch, er gibt keinen Einblick ins Innenleben seiner Charaktere, das bedeutet auch: Sie werden nicht interpretiert. So gibt es keine gängige Moral, an der ihr Verhalten gemessen würde. Woukoache überlässt es dem Zuschauer, Schlüsse zu ziehen über die gefährliche Mischung aus starrer Bürokratie und Verantwortungslosigkeit, über eine Gesellschaft, in der jeder auf sich alleine gestellt ist und es doch unmöglich scheint, alleine auszukommen.

Beide Filme lassen im Übrigen an Frantz Fanons düstere Prognosen vom Beginn der 60er-Jahre denken, an sein Stichwort von den zur Einheitspartei verkommenen Befreiungsbewegungen, die die moderne Form der bürgerlichen Diktatur begründen, „ohne Maske, ohne Schminke, skrupellos und zynisch“. Aber sie wecken auch das nach der Enttäuschung über die Freiheitsbewegungen verschwundene Interesse an Afrika und seiner ganz speziellen Modernität.

„Vacances au Pays“. Regie: Jean-Marie Téno. F/D/Kamerun 2000, 75 Min. Ab 22. März im fsk am Oranienplatz, Kreuzberg; „Fragments de Vie“. Regie: François Woukoache, Belgien/Kamerun, 1999, 85 Min. Ab 29. März im fsk