Boheme in Praga

Wer in Warschau Künstler ist und sich zur Avantgarde zählt, wohnt auf der weniger feinen Weichselseite. In einem Viertel, dessen alte Wohnbauten vor sich hin bröckeln und in dem die Mieten billig sind. Ein Atelierbesuch

von GABRIELE LESSER

Das Atelier im fünften Stück ist eiskalt. Auf den Bänken sitzen drei nackte Frauen. Die lebensgroßen Fotografien wirken irritierend lebendig. Da die Frauen keine Gänsehaut haben, war es wohl wärmer, als die Bilder entstanden. Katarzyna Górna schließt schnell die Glastür des Nebenraums. Dort bullert ein Ölofen und verbreitet wohlige Wärme im „Asyl“, wie die Künstlerin ihr Atelier im Warschauer Stadtteil Praga nennt. Sie sitzt auf einem kobaltblauen Sofa, blinzelt in die Morgensonne und deutet aus dem Fenster: „Es war der Ausblick, der Blick über die Dächer Warschaus: hier die zwei Türme der St.-Florians-Kathedrale, dort die Kuppeln der russisch-orthodoxen Kirche und ein Stück weiter der Kulturpalast aus der Stalinzeit. Symbolischer geht es nicht.“ Die junge Frau ist vor sieben Jahren hier eingezogen, zusammen mit Katarzyna Kozyra. „Wir Künstler sind so wenig praktisch“, sagt sie. „Wenn der Aufzug sich öffnet, steht man vor der Toilette. Meist ist er sowieso kaputt, dann muss man fünf Stockwerke zu Fuß gehen.“

Nach Praga, ins verrufenste Stadtviertel Warschaus, hatten sich Mitte der Achtzigerjahre die ersten Künstler gewagt. Viele folgten in den Neunzigern. In den alten Fabrikhallen und im ehemaligen Möbellager fanden sie ideale Bedingungen vor: zweihundert Quadratmeter und mehr für eine Monatsmiete von umgerechnet vierzig bis hundert Mark. Es gab weder Heizungen noch warmes Wasser noch eine Kanalisation. Aber das schreckte nicht weiter ab. Mit vereinten Kräften und oft über mehrere Jahre hinweg wurden Rohre gelegt, Kohleöfen installiert und Fenster anstelle der Blechverkleidungen eingebaut.

Zu den ersten Künstlern, die sich weder von Kleinkriminellen noch von den Elendsgestalten abschrecken ließen, die in Praga Unterschlupf fanden, gehörten die Maler Jacek Zieminski und Olga Wolniak sowie die Fotografen Kostas Kiritis und Mikolaj Grynberg. Manche Kunstkritiker nannten den riesigen Backsteinbau an der Bialostocka-Straße bereits euphorisch „Andy-Warhol-Fabrik“, doch mehr als vier Ateliers sind hier nie entstanden. Dafür haben die „Bialostocker“ eine Tradition begründet, die in den nachkommenden Künstlerkreisen Pragas schnell Nachahmer fand, die „Tage der offenen Ateliers“.

So auch im zweiten großen Künstlerhaus an der Inżynierska-Straße. Katarzyna Górna, die hier wohnt, erklärt diese Tradition mit dem Mangel an anderen Möglichkeiten: „Hier gibt es keine Galerie, die unsere Arbeiten zeigen könnte oder wollte. Die offenen Ateliers haben sich daher bewährt. Sogar das Off-Theater Academia macht mit. Beim letzten Mal sind an einem Tag über sechshundert Leute gekommen.“

Tatsächlich hat die Künstleravantgarde Polens Schwierigkeiten, ihre Werke einem breiteren Publikum zu zeigen. Es gibt keine Museen, die zeitgenössische Kunst sammeln würden. Selbst das einst berühmte Museum für Moderne Kunst in Lodz stellt nur noch so genannte etablierte Kunst aus. Die Avantgardekünstler treffen sich meist in der Privatgalerie a.r.t. in Płock unweit Warschaus, bevor sie ihre Werke in aller Welt zeigen. „Die meisten Polen sind nicht vorbereitet auf eine Konfrontation mit den zeitgenössischen Kunstströmungen“, erklärt Anda Rottenberg, die Leiterin der Nationalgalerie Zacheta in Warschau. „Viele Themen wie Tod, Leid und Märtyrertum sind patriotisch-religiös besetzt. Wer einen anderen Tod darstellt, riskiert den Skandal.“

Genau das hatte Katarzyna Kozyra getan, als sie in ihrer „Tierpyramide“ die Bremer Stadtmusikanten nachstellte – aus echten Tieren, die sie einschläfern, häuten und ausstopfen ließ. Neben dem Kunstwerk sahen Ausstellungsbesucher ein Dokumentarvideo über die Entstehung dieses „Schönen“. In der Presse wurde die Künstlerin als „Bestie“ tituliert, als psychisch Gestörte, der man helfen müsse, als mentale Terroristin. Auch ihre großformatigen Fotos, die die Künstlerin nackt und kahl nach mehreren Monaten Chemotherapie zeigten, stießen auf Ablehnung.

Kozyra stellt heute meist im Ausland aus. Ähnlich geht es ihrer Freundin Katarzyna Górna, die sich mit der Frau als Heiliger oder als „Mutter Polens“ beschäftigt. Über ihre ironische Anspielung auf die klassische Mutter-Sohn-Beziehung in Polen regte sich insbesondere die katholische Kirche auf: In einer Art Tryptichon zeigt die Künstlerin eine junge Mutter mit einem Baby auf dem Schoß – wie Maria mit dem kleinen Jesus immer dargestellt wird, allerdings beide nackt. Auf dem zweiten Bild ist der Junge schon wesentlich größer und sitzt immer noch auf dem Schoß der Mutter. Auf dem dritten Bild schließlich hängt ein fett gewordener älterer Mann auf dem Schoß der Mutter, die sich damit abgefunden hat, dass der Sohn niemals selbständig werden wird.

Pragas Einwohner verstehen zwar oft die Bilder, Installationen und Theaterstücke nicht, sie bewundern und lieben ihre „Freunde“ aber um so mehr. Zu den „Tagen der offenen Ateliers“ schmieren sie Schmalzbrote für die Gäste, passen auf, dass nichts geklaut wird, schleppen Eimer mit Kohlen in die Ateliers und erzählen im vertraulichen Flüsterton den neuesten Klatsch über „unsere Künstler“.

Inzwischen sind es rund dreißig Maler, Fotografen und Bildhauer, die ihre Ateliers auf die andere Weichselseite verlegt haben. Der Stadtteilbürgermeister Pragas, Ireneusz Tondera, kennt kaum jemanden der Avantgarde in seinem Viertel: „Im Theater Academia war ich noch nie. Kunst ist Geschmackssache. Viele meinen, das sei Pornografie, was die da machen.“ Wäre er persönlich eingeladen, würde er kommen. Und anders als seine Vorgänger von der konservativen Wahlaktion Solidarność (AWS), die nichts für Praga getan hätten, wolle er nun insbesondere Bildung und Kultur in Praga fördern. Tondera schnippt sich ein Staubkörnchen vom Maßanzug und sagt: „Ich mag den Impressionismus. Das ist für mich Kunst.“ Im Foyer des Bürgermeisteramtes ist die Ausstellung „Die Boheme Pragas und ihre Freunde“ zu sehen. Die drei ersten Preise gingen an Künstler, die „Weihnachten in Praga“ gemalt hatten. Von den Avantgardekünstlern hatte sich niemand beteiligt.

Leokadia Rymkiewicz, eine Mitarbeiterin im Bürgermeisteramt, die den Stadtteil positiv „verkaufen“ soll, weiß, dass gerade die Avantgardekünstler Praga zu einem besseren Ruf verhelfen könnten. Die Vorsitzende der „Freunde Pragas“ streckt ihre leeren Hände vor und klagt: „Ich habe kein Geld, ich habe keine Ausstellungsräume, nicht einmal ein Theater für die Academia-Leute habe ich. Einfach nichts.“ Die Verhandlungen über ein Kulturzentrum ziehen sich seit Jahren hin. Schuld daran sei die AWS gewesen, beschwert sie sich.

Im riesigen Backsteinbau an der Inżynierska-Straße haben sich neben einigen Künstlern auch Fotoateliers und die Reklamefirma von Zbigniew Grzeszczuk niedergelassen. Ohne den Unternehmer würde das berühmteste Off-Theater Polens, das Academia, nicht existieren. Er stellt ein Stockwerk des ehemaligen Möbellagers kostenlos zur Verfügung und zahlt auch die Strom- und Heizungskosten des Theaters. „Ich gebe zu, dass ich nicht immer alles verstehe“, meint er, „aber wer weiß, ob das die Schauspieler selbst tun?“

Besucher, die eine Vorstellung sehen wollen, müssen allerdings all ihren Mut zusammennehmen, um sich abends in das auch von der Mafia geschätzte Viertel zu trauen und dort die Adresse „Targowa 80“ zu finden. Haben sie es ohne Zwischenfälle bis zum Theater geschafft, kostet es noch immer einige Überwindung, sich von dem im Volksmund „Gefängnis“ genannten gewaltigen Backsteinbau nicht abschrecken zu lassen und auch dem Schild „Vorsicht, bissige Hunde“ keinen Glauben zu schenken.

Der Theaterregisseur Roman Woźniak kann sich durchaus vorstellen, dass seine „Lebenden Bilder“ auch ohne das gruselige Ambiente auskommen könnten. Er selbst wie auch seine Frau wohnen seit einigen Jahren im Künstlerhaus an der Inżynierska-Straße. „Natürlich“, sagt er, „sind wir die Elite.“ Praga sei inzwischen „die“ Szene überhaupt.

Bis auf Katarzyna Kozyra, die gerade in England eine Ausstellung vorbereitet, kann kaum einer der jungen Künstler in Praga von seiner Kunst leben. Fast alle haben einen Brotberuf. Katarzyna Górna, die mit den Theaterleuten befreundet ist und auf ein Glas Wein vorbeigekommen ist, deutet wieder aus dem Fenster, diesmal aus dem der Woźniaks: „Praga ist unser Asyl. Von hier aus sieht man nicht die neuen Hochhäuser auf der anderen Seite der Weichsel. Die Boomtown reicht noch nicht bis hierher. Hier ist alles noch alt, arm und echt. Nur unsere Themen, die uns umtreiben, sind die der anderen Seite.“

GABRIELE LESSER, geboren 1960, lebt seit 1996 als Polenkorrespondentin der taz in Warschau