Sie büßen mit ihrer Gesundheit

„Ich glaube nicht, dass ich noch mal gesund werde“, sagt ein TBC-kranker Häftling. Sieben Jahre beträgt seine Strafe, angesteckt hat er sich im Gefängnis

aus Chisinau BARBARA OERTEL
(Text) und SYLVIE FRANÇOISE (Fotos)

„Mädchen, hinstellen!“, brüllt die Wärterin und hämmert mit dem Schlüsselbund gegen die Zellentür. Dann späht sie durch das Guckloch. „Hinstellen, habe ich gesagt“, poltert sie noch einmal, reißt den Lichtschalter herunter und öffnet die Tür. Der Geruch von Schweiß und Fäkalien nimmt einem den Atem. In der zwölf Quadratmeter großen Zelle sind acht Frauen zusammengepfercht. Auf den Doppelstockpritschen liegen zerschlissene Matratzen, Bettwäsche gibt es nicht. Von der Decke grüßt der Schimmelpilz. In der Ecke stapelt sich Geschirr, daneben befindet sich der Abort, ein Mauervorsprung mit einem in den Boden eingelassenen Emaillebecken.

Die Frauen haben Haltung angenommen, den Kopf nach unten gesenkt. Eine, in Kittelschürze und Gummilatschen, kann sich kaum auf den Beinen halten. Eine andere kauert auf ihrer Pritsche, hustet und presst sich dabei die Hand vor den Mund. „Die hier haben alle Tuberkulose“, sagt eine kleine, pummelige, weiß-bekittelte Ärztin. „Auch Fälle mit einer offenen Form der Erkrankung sind dabei.“

Medikamente fehlen

Frauentrakt im Untersuchungsgefängnis Nr. 3 in der moldawischen Hauptstadt Chisinau. 1.800 weibliche und männliche Gefangene, darunter 110 Minderjährige, sitzen in Nr. 3. 100 Häftlinge sind an Tuberkulose erkrankt, 30 HIV-positiv. Am Ende des Gangs hat die Ärztin ihr Revier. In einer Vitrine im Untersuchungszimmer liegen drei Glasfläschen und einige Packungen mit Tabletten. „Wir können hier nur leichte Erkrankungen behandeln“, sagt die Ärztin. „Für die an Tuberkulose Erkrankten und die HIV-Positiven können wir überhaupt nichts tun, weil wir keine Medikamente haben.“

Die Zustände im Untersuchungsgefängnis Nr. 3 wie in den anderen Haftanstalten Moldawiens, dem ärmsten Land Europas, sind katastrophal. Nur wenige Stunden am Tag gibt es Strom und Wasser, geheizt wird sporadisch. Ein Bad für die Gefangenen ist im Schnitt alle zehn Tage drin. Die Fenster von 53 Zellen sind mit Metallverschlägen fast luftdicht abgeschlossen. Ein Relikt aus Sowjetzeiten, das die Kontaktaufnahme zwischen den Häftlingen verhindern sollte. Heute trägt es zur Ausbreitung von Tuberkulose und von schweren Erkrankungen der Haut und Atemwege bei, weil es die Lüftung einschränkt. Umbauarbeiten sind nicht finanzierbar.

Für die Versorgung der Insassen, die wegen Überbelegung oft in Schichten schlafen müssen, fehlt es am Nötigsten. Medikamente sind so gut wie inexistent. Weder sind ausreichend Decken vorhanden, noch Hygieneartikel wie Seife, Zahnbürsten oder Zahnpasta. Für die Verpflegung eines Gefangenen stehen pro Tag zwei Lei (umgerechnet 35 Pfennig) zur Verfügung. So besteht die Tagesration aus Tee, 550 Gramm Brot, 20 Gramm Zucker und Buchweizengrütze. Hin und wieder gibt es eine dünne Suppe.

Warten auf den Prozess

Grigorij Tschernukin ist einer der Chefs der Chisinauer Haftanstalt. Seinen wirklichen Namen will er nicht nennen. Nervös trommelt er mit den Fingern auf der Tischplatte. „Die Versorgungslage ist extrem schwierig“, sagt er. „Aber wenigstens können die Verwandten der Gefangenen, so oft sie wollen, jetzt hier Lebensmittel abgeben. Darüber entscheiden wir in Eigenregie, das ist heute besser als früher.“ Damit sind für den Militär im Range eines Oberst die Vorteile im Vergleich zum Sowjetsystem erschöpft. „Heute warten die Häftlinge hier bis zu sieben Jahre auf ihren Prozess. Früher dauerte das maximal zwei Jahre. Was das angeht, wurden in der Sowjetunion die Menschenrechte besser geachtet“, sagt er. Selbst nach der Verurteilung blieben die Gefangenen weiter im Untersuchungsgefängnis, weil sie nicht gleich verlegt werden könnten. „Wir haben hier 42 Insassen mit dem Urteil ‚lebenslänglich‘. Und leider keine Todesstrafe mehr“, fügt Tschernukin hinzu. „Wenn einer jemanden umgebracht hat, muss der abgeknallt werden, ohne Wenn und Aber.“

Aus dem Verwaltungstrakt führt der Weg in einen Innenhof. Die Fassaden sind dreckig, der Putz blättert von den Wänden. Im Treppenaufgang riecht es wie in einem Keller, in dem seit Monaten Kartoffeln einlagern. Der Schließer öffnet die Zelle. Sofort recken sich rasierte Köpfe neugierig in Richtung Tür. Rund ein Dutzend minderjähriger, TBC-kranker Häftlinge drängt sich hier auf engstem Raum. Es ist stickig. Die Decken auf den Pritschen starren vor Dreck. In der Mitte steht ein Fernseher. „Wenn Sie weg sind, geht gleich wieder das Licht aus“, ruft einer. Ein junger Mann, dem die Trainingshose um die Beine schlabbert, steht schüchtern in der Ecke. Immer wieder wird er von Hustenkrämpfen geschüttelt. „Ich bin hier krank geworden“, sagt er leise. „Sieben Jahre haben sie mir gegeben, und ich glaube nicht, dass ich noch mal gesund werde.“ Der zuständige Arzt macht ein besorgtes Gesicht. „Die Tuberkulose ist zuerst eine soziale Krankheit und breitet sich rapide aus. Das hat auch damit zu tun, dass das Lebensniveau generell im Land immer weiter sinkt“, sagt er. „Viele kommen schon tuberkulosekrank hierher, andere mit einem schlechten allgemeinen Gesundheitszustand werden hier schnell infiziert.“

Knast nur für Kranke

Ein Ausweg aus dem Teufelskreis von Armut und Krankheit scheint kaum möglich. Um eine Ausbreitung der Tuberkulose-Epidemie zumindest in den Gefängnissen zu verhindern, versuchen die Verantwortlichen, die kranken Straftäter an einem speziellen Ort zu isolieren: dem Gefängniskrankenhaus OSC 29/8 in Bender. Obwohl die Stadt zu Transnistrien gehört, dessen Regierung sich von Moldawien abspalten will, wird die Einrichtung von Chisinau aus verwaltet.

650 tuberkulöse Häftlinge sitzen hier ein, davon 170 akut Erkrankte. Der Komplex ist von hohen Mauern mit elektrisch geladenem Stacheldraht umgeben. Misstrauisch verfolgen die Wachen von ihrem Turm aus das Geschehen auf dem Hof. Dan Ion Michai, Arzt und einer der Chefs des Gefängniskrankenhauses, hat keine Lust auf ein Gespräch. Seine Stimmung ist auf dem Nullpunkt, genauso wie die Temperatur in seinem Büro. „Vor ein paar Jahren wären Sie hier nicht reingekommen“, sagt Michai. „Aber jetzt, angesichts der Situation, bleibt uns nichts anderes, als die Flucht nach vorn anzutreten.“ Der zweite Chef, Ivan Gorodskij, grinst hilflos. Unaufhörlich fingert er an einem Vorhängeschloss, öffnet und schließt es, immer wieder, klick, klack, klick, klack. „Seit der Perestroika ist es immer schwieriger geworden“, sagt Michai. „Die Verpflegung ist vollkommen unzureichend.“ Im Gegensatz zu anderen Gefängnissen stünden hier zumindest manchmal außer Tee, Brot und Buchweizengrütze auch etwas Reis, Fisch, Huhn und Margarine auf dem Speiseplan. „Das entspricht aber keinesfalls den Normen.“ Gerade Tuberkulosekranke müssten sich gut ernähren, weil sich andernfalls die Medikamente negativ auf den Organismus auswirkten. „Was können wir schon tun?“, fügt Gorodskij hinzu: „Wir sind eben alle Geiseln der schlechten, wirtschaftlichen Lage.“ Ein Jahr verbleiben die Gefangenen in der Regel in Bender. Wenn sie einigermaßen wiederhergestellt sind, werden sie in die anderen Gefängnisse verlegt.

Das Gebäude für die Kranken mit offener Tuberkulose gleicht einem Hochsicherheitstrakt. Alle paar Meter gibt es eine doppelt gesicherte Gittertür. Auf dem Gang stehen an die Wand gelehnt mehrere Gefangene, einige blicken apathisch vor sich hin. Einer der Räume ist durch ein Gitter zweigeteilt. Auf der einen Seite verteilen zwei Krankenschwestern Tabletten in kleine Plastikbecher. Von der anderen Seite her strecken sich ihnen Hände entgegen, um die Ration in Empfang zu nehmen. An einer Stelle hat das Gitter eine etwas größere Öffnung, gerade weit genug, um das Gesäß für eine Injektion hindurchzustecken.

Wieder unten vor dem Gebäude angelangt, steuert Dan Ion Michai direkt auf den Ausgang zu – Visite beendet. Auf der gegenüberliegenden Seite, von einem Innenhof aus, dem so genannten ambulanten Areal, beobachten die Gefangenen durch ein halb geöffnetes Tor neugierig die Delegation. Endlich gibt Michai nach und die Erlaubnis, den Hof zu betreten. Die Häftlinge weichen zurück. Rechter Hand befindet sich eine kleine Kapelle. An den Wänden hängen Heiligenbilder, in der Mitte steht ein Altar, davor ein Mönch in schwarzer Kutte, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Messe ist gerade beendet. Fast hypnoseartig fixiert der Geistliche sein Gegenüber. „Diese Menschen hier sind hungrig, und wir geben ihnen etwas. Wenn wir ihnen schon nicht materiell helfen können, so doch durch Worte. Dadurch wird ein Teil des Schmerzes, den sie in ihren Herzen spüren, von ihnen genommen. Das bedeutet sehr viel“, sagt Bruder Irineu. Noch während er doziert, drängt sich ein älterer Mann nach vorne. „Ich habe ein Buch geschrieben, über mein Leben im Gefängnis, bitte, nehmen Sie es“, fleht er. „Vielleicht können Sie es bei sich zu Hause veröffentlichen.“ Er überreicht ein dickes, in Plastik eingeschlagenes Tagebuch. Auf dem Buchdeckeln prangt ein Heiligenbild, auf der ersten Seite steht in großen Lettern geschrieben: „Jurij Markow, über Gott, den Kommunismus und die Demokratie – Aphorismen“. Im Vorwort heißt es: „In diesem Buch will ich niemanden anklagen. Ich will meinen Weg beschreiben, meinen Weg zu Gott.“