Weh dem, der sich im Wissen wähnt

Alles könnte ein bisschen gut sein. Warum es im Exil aber nicht gut wird, beschreibt Milan Kundera in dem Roman „Die Unwissenheit“. Außerdem spickt er das Buch mit Reflexionen über Nostalgie, Heimweh und die Odyssee

Auf den ersten Blick ist alles klar und wohl sortiert in „Die Unwissenheit“, dem neuesten Roman des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera, der von einer modernen Rückkehr des Odysseus handelt: Im Mittelpunkt stehen zwei tschechische Emigranten, zwei Auswanderer, Irina und Josef, die einander Anfang der 90er-Jahre am Flughafen in Paris begegnen, wo beide mit demselben Flugzeug in die alte Heimat, nach Prag, reisen wollen. Irina spricht ihn an, weil sie ihn für einen Jugendschwarm hält. Beide kehren nach zwanzig Jahren Abwesenheit in ihre Heimat zurück. Wie Odysseus. Beide waren (wie Kundera) aus der Tschechoslowakei geflohen, beide hatten sich längst in ihrem jeweiligen Gastland eingelebt – wie Kundera selbst, der 1975 ausreiste, 1981 die französische Staatsbürgerschaft erhielt und seit 1995 auch seine Romane in französischer Sprache schreibt. Und wie schon Odysseus bei Kalypso, die ihm Unsterblichkeit und zeitlose Jugend verhieß, wenn er nur seine Heimat vergessen würde.

Beide, Irina und Joseph, kehren im Unterschied zu Odysseus jedoch beinahe widerstrebend und auch nur zu Besuch zurück; dabei kommen sie vor allem der Erwartung ihrer Umwelt nach. So gerne hätten sie ihre Herkunft abgestreift! „Nostalgie-Insuffizienz“, urteilt der Erzähler.

Irina hat auch nach zwanzig Jahren in den Augen ihrer Pariser Freunde noch das Etikett der „aus ihrer Heimat verbannten, leidenden jungen Frau“. Und als sie, in Prag angekommen, ihre einstigen Freunde mit einem exquisiten französischen Rotwein bewirten möchte, verweigern diese, die neue Heimat ihrer Freundin anzuerkennen: Sie bestellen lieber „patriotisches“ tschechisches Bier und geben Irina zu verstehen, dass sie nichts von ihrem fernen Leben wissen wollen. Joseph ergeht es kaum anders. Auch sein Bruder will nichts wissen von Josephs Leben in Dänemark, nichts von dessen (toter) Ehefrau und auch nichts von Josephs Empfinden, wieder nach Hause zu kommen, seine eigene Armbanduhr am Arm seines Bruders zu sehen.

So stoßen die beiden mit ihrer Nostalgie-Insuffizienz ununterbrochen an die Mauern der Wissens-Insuffizienz, der Unwissenheit, die dem Buch den Titel gab. Dabei kann man weder seine Heimat abstreifen noch die zwanzig in der Ferne verbrachten Jahre. Doch inmitten all der Insuffizienzen sind die Daheimgebliebenen den Ausgewanderten fremd und ist die Muttersprache (jene „Heimat“ so vieler Emigranten), wie Joseph klagt, unbekannt, kalt, nasal usw. geworden. Um die Folgen der Einsamkeit, die beide in dieser Heimat-Fremde erfahren und ermessen, zu lindern, bangt man als Leser – so will es die ausgetüftelte Dramaturgie – darum, dass die zwei fernen Seelen, die derart einsam im Gleichklang scheinen, zueinander finden mögen. Dann könnte alles ein bisschen gut sein.

Doch man weiß: In heutigen Romanen geht immer nur momentweise „alles ein bisschen gut“. Das Rendezvous findet also statt, und auch der erhoffte Liebestaumel stellt sich ein: Nach zwanzig Jahren Heimweh-Insuffizienz werden die beiden miteinander von Nostalgie und Liebe fortgerissen. Auslöser ist ausgerechnet ein obszöner Satz, den Irina in derbem Tschechisch ausspricht: „Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren hört er diese derben tschechischen Worte und ist sofort so erregt wie nie, seit er dieses Land verlassen hat [. . .], denn all diese gewöhnlichen, schmutzigen, obszönen Worte haben nur in seiner Muttersprache (in der Sprache Ithakas) Gewalt über ihn, denn nur in ihr steigt aus tiefen Wurzeln die Erregung von Generationen um Generationen auf.“

Der Liebestaumel erstickt alsbald in Wein, Tränen und Wirklichkeit. Das alles wäre eine ausgeklügelt konstruierte Liebesgeschichte, gekonnt inszeniert mit drastisch minimierten, umso eindringlicheren Augenblicken der Begegnung und der Nicht-Begegnung – gespickt mit einer Vielzahl von Anekdoten und Reflexionen aus der europäischen Musik- und Geistesgeschichte, die alle die Ignoranz gegenüber der modernen Heimatlosigkeit ins Zentrum rücken. Doch Kundera hat seine Geschichte selbst unterminiert: Während die Exilierten (so will es der rote Faden der Geschichte) sich im Wissen wähnen, gibt es eine Nebenfigur, Milada, die das Romankonstrukt nahezu unmerklich durchkreuzt. Sie, eine Jugendfreundin von Irina, ist zugleich eine vergessene Jugendliebe von Joseph. Sie, die Zurückgelassene, Abgestreifte, Daheimgebliebene, weiß, was Joseph und Irina nicht wissen, und sie hütet das Geheimnis ihres Wissens, als sei es ein tiefer See, der die Selbstbildnisse von Irina und Joseph verzerrt zurückspiegelt.

So entsteht letztlich ein brisanter Schwebezustand, in dem sich der Zustand der Unwissenheit (die Jugend, die Unschuld) einem Zustand der Ent-Täuschung (des Alters, der Wiederholung) gegenübersieht. Kein Wunder, dass Kunderas „Unwissenheit“ zuallererst vom Alter redet, über Lebensliebe und Totentreue, über Einsamkeit und Gemeinseligkeit, über das Leben im Sozialismus und das im fremden Bette. Am Ende dann eine kleine Fastliebeserklärung an die alternde weibliche Orangenhaut.

53 Kapitel hat der Roman, manches Kapitel ist vier Seiten lang, manches nur eine. So komprimiert und minimiert Kundera die in Momenten, Gedanken, ja Abstraktionen geronnenen Erfahrungen des Emigrantenschicksals, das er selbst erlebt, aber auch aus den Erzählungen anderer Emigranten abgelesen haben dürfte. Neben Reflexionen über Nostalgie, Heimweh und die Odyssee, den Urmythos der Heimkehr, hat Kundera in die Geschichte dieses unscheinbaren Paares Verse von Jan Skacel, Gedanken über Igor Strawinsky und andere Betrachtungen von und über „Nomaden“ verwoben – sein Ideal verfolgend, das er in einem Text über Musil so beschrieb: „Das Denken wird dem Leser nicht am Ende des Buches als eine ,Wahrheit‘ beschert; analytisch, phänomenologisch ist es ständig präsent.“

Ob es stimme, soll Arnold Schönberg 1950 im amerikanischen Exil gefragt worden sein, dass dem Künstler fern der Heimat die Inspiration verdorre? Milan Kunderas Roman setzt sich dieser Frage aus. Eine Kritik an seinem letzten Roman, „Die Identität“, lautete, er schneide das realistische Fruchtfleisch fast völlig weg. Und in der Tat: Erzählkunst ist für ihn Minimalisierung geworden. Dabei dürfte die eigene Erfahrung, fern der Heimat, also fern des selbstverständlichen Lebenszusammenhangs, zu sein, seinen Schreibstil geprägt haben. Er, der wie seine Helden an die Mauern der Unwissenheit stößt, wählte das essayistische Schreiben vielleicht als einen Versuch, in diesem 20. Jahrhundert der Heimatlosigkeit und des Exils mit den fremden, „unwissenden“ Menschen und Völkern im Dialog zu leben; als einen Versuch, einen als gemeinsam erfundenen europäischen Denkraum zu kreieren und in diesen hineinzusprechen.

Auch wenn „Die Unwissenheit“ auf Französisch geschrieben wurde, erschien der Roman letztes Jahr auf Wunsch des Autors zuerst in Spanien – und zwar auf Katalanisch und Kastillanisch zugleich. Grund für diese Erstveröffentlichung war, so las man in der spanischen Presse stolz, dass gerade die Gespräche mit zurückgekehrten Franco-Flüchtlingen in den 80er-Jahren den Anstoß zu dem Roman gegeben hätten. MARIE LUISE KNOTT

Milan Kundera: „Die Unwissenheit“. Aus dem Französischen von UliAumüller. Hanser Verlag, München 2001, 180 Seiten, 35 DM