Memme in Fesseln

Einer, der sich verrückt macht und mit sich manchmal uns: Leon de Winter erzählt von dem jüdischen Stadtneurotiker und Frauenhelden Leo Kaplan. Und davon, was die Figur hindert, richtig loszuleben

von MANUEL GOGOS

Leo Kaplan auf der Flucht: Atemlos, gehetzt begegnet er dem Leser gleich von der ersten Seite an mit dem verzweifelten Wunsch, aus seiner eigenen Haut zu entkommen: „Da lief er, Leo Kaplan, Schriftsteller und Suchender, rennendes Symptom alles Rat- und Richtungslosen.“ Welcher Teufel reitet ihn, diesen Kaplan, für den das Leben ein permanenter Ausnahmezustand ist, eine unausgesetzte Prüfung?

Alles wächst ihm über den Kopf, er kann nicht mehr schreiben. Stattdessen hängt er vor dem Fernseher. Besessen von Schriftstellerfiktionen und Männerfantasien, ist er voller Gefühle – aber die sind gemischt. Kaplan will etwas aus seinem Leben machen, aber wie das geht, weiß er nicht: „Sicherheit machte ihm genauso viel Angst wie Unsicherheit, er liebte Hannah (seine zweite Exfrau) und er liebte andere Frauen, er nannte sich Jude, wollte aber nicht, dass andere ihn Jude nannten, er hatte ein Faible für gutes Essen, wollte aber nicht dick werden, er war Schriftsteller und hasste das Schreiben, er liebte die Einfachheit, war in seinem Verhalten aber höchst kompliziert.“

Kaplan ist einer jener nervösen Clowns, jener modernen Narren, ein Stadtneurotiker, der sehnsüchtig nach Ruhe verlangt und dabei sich selbst terrorisiert. Als einer, der durch die Straßen stürzt, als hätte er seinen Kopf verloren, sucht er nach Menschen, die ihm den Kopf zurechtrücken, ihm den Kopf – und die Wäsche – waschen: Frauen. Liebes- und trostbedürftig, treibt es ihn rastlos in ihre Arme – eine Mischung aus Don Juan und Ahasver. Er kommt nicht von ihnen los. Seine Frauen sollen ihn entspannen, ihn „erlösen“; dass sie auch Gefühle haben, ist der Haken.

Kaplan, 36 Jahre alt, zweimal geschieden, mit einem fatalen Hang zu dem „russischen Volksgetränk“, braucht dringend ein Gegengewicht. Das findet er in Ellen, einstmals seine erste Liebe. Aus ihr ist unterdessen eine gesetzte Diplomatengattin geworden. Neuerdings wird sie von nicht ganz standesgemäßen Tagträumen heimgesucht, die sie mit dem Aufreißerkellner Dino – leider nicht das einzige Klischeemonster im Roman – in die Tat umzusetzen versucht. Auch sie scheint noch immer auf der Suche zu sein. Immer noch auf der Suche nach Kaplan?

Die beiden hatten sich seinerzeit als Studenten in Amsterdam kennen und lieben gelernt. Er, jüdischer Abstammung, und sie, Spross einer niederländischen Kollaborateursfamilie – eine Schickse also –, wollten gemeinsam mit ihrer Erblast Tabula rasa machen. Und nun steuern sie auf 17 Jahre währenden Umwegen über Kairo, Abu Simbel, Odessa und andere illustre Tatorte wieder aufeinander zu. Plötzlich stehen sie einander wieder gegenüber; aber was können sie – nach all der Zeit – noch miteinander anfangen?

Kaplan hat es nicht leicht. Sein Vater ist Jud Kaplan, der „Schacherer“, dessen Millionen Leo erst erben soll, wenn er der Welt einen beschnittenen Sohn präsentieren kann. Dieser Vater erzählt immer nur jüdische Witze – allerdings ohne Spaß zu verstehen; und die Mutter kocht ewig Hühnersuppe, um ihrem Sohn sein Leibgericht einzuflößen, ob er es mag oder nicht. Die Eltern sind Meister auch im Einflößen eines schlechten Gewissens. Kaplan ist in den Fallstricken erstickender Zärtlichkeit gefangen, Erpressungen aus Liebe.

Mit seinen Omnipotenzfantasien und Kastrationsängsten steht er in einer langen Tradition von jüdischen Muttersöhnchen, Opfern der berühmt-berüchtigten jiddischen Mamme. Irgendwo zwischen verspäteter Spätpubertät und verfrühter Midlife-Crisis lamentiert diese jiddische Memme. Wie von den Frauen kommt er von seinen Eltern nicht los. Noch aus dem Grab erpressen sie ihn: „Vergeude dein Leben nicht!“ Da ist es natürlich genau das, was er tun muss.

Und da gibt es noch eine Fessel, die ihn hindert, endlich richtig loszuleben: seine jüdische Abstammung. Kaplan ist bewusst als jüdischer Charakter entworfen, den er selbst zugleich als Erblast und als besonderen Charme, seine Auszeichnung, empfindet. Sein Judentum aber wirkt nicht selten pauschalisierend, insbesondere wenn er von der „altbekannten jüdischen Paranoia“ spricht. Da wird der so genannte jüdische Selbsthass zum Klischee.

„Leo Kaplan“ ist sicher nicht de Winters allerstärkstes Buch, und man versteht, dass es erst nach „Sokolows Universum“ mit einer Verspätung von 15 Jahren ins Deutsche übersetzt worden ist. Es tendiert häufig zum Slapstick, kommt um manchen schwachen Dialog und manche Albernheit nicht herum. Und doch hat de Winter ein so traurig-komisches Buch über Liebesbedürfnis und Lebenslügen geschrieben, dass man gespannt ist auf das Ende dieses „Golems“ Kaplan. Seine Charakterlosigkeit hat System. Untreue, Sehnsucht nach Treue, Geradlinigkeit und Seitensprünge, Verrat und andere subtile Grausamkeiten, das alles gehört zu seinen Ritualen. In tieferem Sinne sind es seine Unzulänglichkeiten, die ihn ausmachen – „das Zeug zum Heiligen“ hat er nicht. Was er aber hat, das ist das Zeug zum Menschen. Kaplan macht sich verrückt – und mit sich manchmal uns.

Leon de Winter: „Leo Kaplan“. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2001, 512 Seiten, 46,90 DM