Halbblind durch den Korridor Leben

■ Wenn man ruht, bleibt die Zeit vielleicht stehen. Denken Herbjörg Wassmos Figuren

Ihre Figuren sind halbblinde Luchse. Schleichen mit zusammengekniffenen Augen durchs Leben und versuchen verzweifelt, einen Rhythmus hineinzubekommen. Suchen ihre Choreographie zu finden, um endlich eine Erklärung für das eigene Leben zu haben: Starke Frauen schafft die 59-jährige norwegische Autorin Herbjörg Wassmo, die schon 1987 den renommierten „Literaturpreis des Nordens“ bekam, deren Buch Dina vom norwegischen Buchhändlerverband zum besten Roman der achtziger Jahre gekürt wurde und auch in Deutschland hohe Auflagen erreichte.

Unversöhnlich agiert die wilde, unberechenbare Dina, bastelt ihre eigenen Gesetze und schafft beiseite, wen sie für überflüssig hält, ohne Gewissensbisse zu spüren. Über das Schicksal von Mensch und Tier entscheidet sie, die als Fünfjährige aus Versehen ihre Mutter verbrühte und seither aus allen moralischen Rastern fällt. In karger Sprache sind Wassmos Bücher geschrieben, akkurat längs des scharfkantigen Originals übersetzt. Doch man soll sich nicht täuschen: Heiße Lava ist verborgen unter dem sprachlichen Vulkangestein, Explosionen sind jederzeit möglich, jeder Blick kann Abgründe bergen. Alttestamentarisch hart agiert Dina im von Bibelzitaten durchzogenen Roman; weniger schroff agieren die Frauen im Erzählband Auf der Reise, aus dem Wassmo jetzt in Hamburg liest.

Eine Wohnungsbesichtigung ruft in einer Frau Erinnerungen wach; unscheinbare Gegenstände fungieren als Scharniere zwischen Jetztwelt und Vergangenheit, immer wieder vermengen sich Zeit- und Realitätsebenen. Scharf beobachtet dabei die Protagonistin eigene und fremde Bewegungen, korrigiert immer wieder ihren Standort im Raum, als tanzten alle eine riesige Choreographie, ohne je die korrekte Position zu finden.

Die Gründe für die Wendungen ihrer Lebenschoreographie erschließen sich auch der Todkranken in Die Brücke nicht, die verzweifelt versucht, die vermeintlich falsche Wegbiegung zu finden, die den Krebs verursacht haben könnte. Aber vielleicht ist es gerade der Zweifel, der sie von einer realistischen Positionsbestimmung, vom Eintritt in die richtige Umlaufbahn abhält.

Vielleicht ist es auch das Miss-trauen gegenüber der Zeit, das ein gelassenes Resümee verhindert: Bewegung steuert das Leben, so empfindet es die Wohnungsbesichtigerin. Mit Routinehandgriffen hangelt sie sich durch die Zeit, die Umdrehungen der Zahnbürste im Mund gewährleisten den Fortgang des Weltgeschehens. Und irgendwie scheint die Frau zu fürchten, Zeit und Welt könnten stehenbleiben, wenn sie ihren persönlichen Umdrehungsanteil reduzierte. Und wenn auch die 1996 erschienenen Erzählungen nicht die sprachliche Kraft des Buches Dina haben, treibt auch diese Figuren die stetige Frage nach der Nuance Einfluss, die der Mensch auf sein Schicksal nehmen kann – Fragen, mit denen sich die Figuren schamlos unhip auch an Verstorbene richten. Vielleicht keine so schlechten Adressaten für Menschen, die tief innen an ein gesteuertes Schicksal glauben.

Und manchmal, da fühlen sie sich plötzlich schuldig an den Geschicken eines anderen – wie jene Frau, die einen Fremden ansieht, bevor er in ein Auto läuft. Als habe sie ins kosmische Geschehen eingegriffen, fühlt sich die Protagonistin, und versucht – aus Schuldgefühl? – das sterbende Gesicht zu zeichnen: Vielleicht in der Hoffnung, ihn ein Atom weit für die Ewigkeit festzuhalten, vielleicht auch aus dem diffusen Wunsch heraus, dem Kosmos ein Stück von dem zurückzugeben, was sie ihm entrissen zu haben glaubt. Petra Schellen

Montag, 20 Uhr, Literaturhaus