„Ein vergewaltigtes Land“

Carmen Scher, Leiterin des Goethe-Instituts in Sarajevo, über Sprache, Politik und Kulturförderung in befriedeten Krisengebieten: „Für viele war die Stadt nur interessant, solange geschossen wurde“

Interview KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Welche Sprachen braucht man, um ein Goethe-Institut in Sarajevo aufzubauen?

Carmen Scher: Die Menschen in Bosnien-Herzegowina nutzen die Sprache als Politikum. Es gibt eine große Auseinandersetzung, wie sich die Sprache, die ehemals Serbisch-Kroatisch hieß, jetzt nennen soll. Wenn ich als Deutsche Bosnisch-Herzegowinisch oder Serbisch-Kroatisch lerne und dann mit einem Kroaten spreche und für Brot einen muslimischen Ausdruck benutze, dann bin ich diskreditiert. Also gehe ich besser mit einem Dolmetscher, da weiß man, er ist Muslim, dann ist das legitim.

Die Nachricht von der Eröffnung hat lange vor 1999 die Runde gemacht. Auf welche Erwartungen sind Sie getroffen?

Als ich am 6. Oktober 1999 endlich eintraf, dachten Kulturschaffende und Künstler: Jetzt geht es los. Jetzt endlich gibt es Sprachkurse. Jeder kann sich einschreiben. Die staatlichen Stellen des Gastlandes dachten, ah, endlich kommt ein Sponsor, jetzt gibt es Geld. Die Erwartungen reichten von „Bauen sie jetzt unser Kino wieder auf“ über „Meine Tochter hat in Deutschland während des Krieges Deutsch gelernt, kann sie jetzt bei Ihnen Bücher geschenkt bekommen?“ bis zu seriösen Kooperationsvorschlägen von Theaterleuten, die Brecht-Stücke ins Bosnische übertragen wollen.

Warum wird in Sarajevo Deutsch gelernt?

Viele können schon ein wenig und wollen weiterlernen. Sie können Deutsch, weil sie entweder während des Krieges als Flüchtlinge hier waren oder weil der Vater Gastarbeiter war oder sie in den 80ern Deutschland als Tourist besucht haben. Außerdem steigen die Berufschancen mit jedem Fremdsprachenerwerb. Natürlich hoffen viele, irgendwann mal nach Deutschland zurückkehren zu können. Man muss aufpassen, dass man keine falschen Hoffnungen weckt.

Die erste Ausstellung im Institut galt Goethes Farbenlehre. Ich kenne Maler, die sich dafür interessieren, und Germanisten. Was fängt eine kriegszerstörte Stadt mit dem Thema an?

Goethe kennt auch dort jeder, aber wir wollten gleich mit einem Vorurteil aufräumen, dass Goethe nur Literat gewesen sei und wir nur Sprachkurse machen. Nein, es ist ganz anders. Das Publikum war sehr überrascht, Fernsehsender haben gefilmt; man hat sich gefreut, dass eine Ausstellung von Deutschland herübergebracht wurde. Der Krieg ist fast fünfeinhalb Jahre her, und fast alles, was den Anschein von Normalität erweckt, erzielt Interesse. Man möchte sich nicht permanent mit dem Krieg auseinander setzen müssen. Der Vergleich ist vielleicht radikal: Eine vergewaltigte Frau möchte auch nicht immer darauf angesprochen werden. Das ist ein vergewaltigtes Land, und die Vergewaltiger waren keine Fremden, sondern Familienmitglieder.

Gibt es unter den Gruppen, die nach ethnischer Zugehörigkeit und Religion getrennt sind, Seiten, die gerne ihr Programm vereinnahmen würden?

Klar. In allen drei Gruppierungen gibt es Bestrebungen, sich alles auf die Fahnen zu schreiben. Das steht den Leuten nicht auf die Stirn geschrieben, das muss man lernen. Es ist ein Trial-and-Error-Verfahren, bis man in diesem Land angekommen ist. Das merke ich jetzt, nach einem Jahr. Ich bemühe mich, einige Kulturprogramme auch in der Rebublika Srpska und in West-Mostar durchzuführen, um zu zeigen, dass wir für den Gesamtstaat zuständig sind.

Eines der größten Projekte im ersten Jahr war die Unterstützung von „Dantons Tod“.

Das hat Manfred Weber, der seinerzeit Leiter des Kleist-Theaters in Frankfurt (Oder) war, inszeniert. Das war seine dritte Arbeit aus der Kleist-Trilogie in Sarajevo. Unter abenteuerlichen Umständen hat er mit den Schauspielern geprobt. Für dieses Jahr planen wir eine neue Inszenierung, für die aber die Finanzierung noch nicht steht. Wir würden gerne den „Nathan“ inszenieren: nicht im Theater, sondern in der Synagoge, in der Moschee, in der Kirche. Das liegt in der Innenstadt alles nahe beieinander: Sarajevo ist das europäische Jerusalem. Die Idee kommt nicht von uns, sondern von den Leuten aus der Stadt.

Theater haben wohl erstaunlich früh wieder in Sarajevo begonnen zu arbeiten.

Während des Krieges, unter Beschuss, hat das Theater weitergespielt. Oder das Kino. Filmfestivals liefen weiter. Man hat sich an der Kultur festgehalten, genauso wie man immer Wert darauf gelegt hat, gepflegt gekleidet auf die Straße zu gehen. Man hat Kultur weitergeführt wie ein Überlebensmittel. Die Gebäude sind häufig zerstört, vor allem die Kinos. Sehr viele Kinos sind nicht beheizbar, oder die Projektoren fehlen. Aber es gibt viele Galerien, einige Kinos sind wiederaufgebaut und viele Theater funktionieren. Bedingung waren die vielen Hilfsgelder, die gerade in den ersten Jahren geflossen sind. Fast alles wird von außen finanziert, die Stadt Sarajevo selbst gibt so gut wie nichts für Kultur aus.

Was hoffen Sie von Berlin nach Sarajevo mitnehmen zu können?

Im Moment bemühe ich mich, das Interesse an Sarajevo wiederzuerwecken. Für viele war Sarajevo nur interessant, solange dort geschossen wurde. Völlig verrückt. Da ist meine Botschaft, da ist etwas mitten in Europa, gleich ums Eck, das ist längst noch nicht heile. Dementsprechend will ich Projekte nach Sarajevo holen, die helfen, infrastrukturell zu wirken. Für die „Nathan“-Inszenierung suche ich Gelder. Wir haben eine großzügige Zusage der zentralen Verwaltung des Goethe-Instituts/Inter Nationes, aber das reicht nicht. Wenn der Berliner Senat es koproduzieren würde, das wäre was.