Ein Fall von Kannibalismus?

von FRANCOIS MISSER

Lodja, eine staubige Diamantenstadt tief in der Demokratischen Republik Kongo. An einem heißen Tag im August 1998 wird der kongolesische Tutsi Brice Benerwa, Angestellter einer Fluglinie und Angehöriger der Zeugen Jehovas, von der Armee verhaftet.

Eine Gruppe von Soldaten lässt sich dabei fotografieren, wie sie zusammen mit Zivilisten die geröstete Leiche des Tutsi zerstückelt. Am Schluss sieht man einen Zivilisten in triumphierender Pose mit Fleisch im Mund. Brice Benerwa wurde aufgegessen, sagen Ermittler der kongolesischen Menschenrechtsorganisation „Centre de Formation pour les Droits de l’Homme“.

Der August 1998 ist eine angespannte Zeit im Kongo. Ein von Ruanda organisierter bewaffneter Militärputschversuch gegen Kongos Präsident Laurent-Désiré Kabila ist soeben gescheitert, rebellierende Militärs übernehmen mit Unterstützung Ruandas die Kontrolle über wichtige Garnisonsstädte. Kabilas Regierung ruft zur Jagd auf Ruander und Tutsi auf. „In jedem Dorf müssen die Leute zu den Waffen greifen, sogar zu den traditionellen Waffen, Pfeil und Bogen, Speeren und anderen Dingen, um den Feind auszulöschen, um nicht Sklave der Tutsi zu werden“, sagt Kabila vor laufender Kamera. Sein Außenminister Abdoulaye Yerodia sagt über die Tutsi: „Für uns sind die Müll. Und sogar Mikroben muss man methodisch und resolut ausrotten.“

Nach Angaben der Überlebendenorganisation GPVHE (Gruppe der Angehörigen der Opfer des ethnischen Hasses im Kongo), die die Bilder der taz zugeleitet hat, fordern die Anti-Tutsi-Pogrome des August 1998 1.200 Opfer. In der zentralkongolesischen Provinz Ostkasai, wo Lodja liegt und wo kaum Tutsi leben, gibt es 15 Hinrichtungen. Brice Benerwas Verhaftung wird nach Angaben des GPVHE-Vorsitzenden Louis Mugunga wa Ndoba von zwei Angehörigen der Volksmiliz FAP (Kräfte der Selbstverteidigung des Volkes) bei einem Treffen mit vier namentlich bekannten anderen Personen beschlossen und auf Befehl der Armeekommandanten Fataki und Jules Lumumba ausgeführt.

Die Täter, die Benerwas Leiche grausam zerstückelten, sind nicht namentlich bekannt, sagt Mugunga. Aber er wundert sich nicht, dass sie sich dabei fotografieren ließen. „Sie wollten ihren Vorgesetzten ihren Eifer beweisen“, erklärt er. Die Bildfolge wurde als Beweis patriotischer Pflichterfüllung dem Provinzgouverneur von Ostkasai, Omar Nkamba, geschickt. Als Lodja später an Rebellen fiel, kamen sie in den Besitz von Tutsi-Überlebendengruppen. Nkamba, der heute in Belgien lebt, sagt, er habe die Fotos nie gesehen. „Die Provinzregierung wurde von den Aktivitäten des Militärs ferngehalten“, erklärt der Exgouverneur und erinnert daran, dass er damals wegen vermuteter Komplizenschaft mit den Rebellen abgesetzt wurde. Zu den Fotos sagt er heute: „Es ist gut möglich, dass solche Gräueltaten damals in Lodja begangen wurden.“

Beweismaterial

Jetzt sollen die Bilder als Beweismaterial in den Ermittlungsverfahren der belgischen Justiz gegen Angehörige der kongolesischen Regierung wegen Volksverhetzung dienen. Überlebende der Pogrome haben den damaligen Außenminister und heutigen Bildungsminister Yerodia, den inzwischen ermordeten Präsidenten Laurent-Désiré Kabila, dessen Kommunikationsberater Dominique Sakombi, den damaligen Informationsminister Didier Mumengi und den noch amtierenden Innenminister Gaetan Kakudji in Belgien wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Aufhetzung zum Völkermord“ angeklagt.

Es gäbe noch mehr zu ermitteln. Zum Beispeil weiß vermutlich der Stadtkommandant von Kinshasa, Nawej Yav, der mittlerweile wegen mutmaßlicher Beteiligung an Laurent Kabilas Ermordung in Haft sitzt, was aus 550 Tutsi wurde, die am 13. und 14. August 1998 aus dem Militärlager Kokolo an einen unbekannten Ort geschafft und nie wieder gesehen wurden. Der Generalinspekteur der Polizei, Celestin Kifwa, weiß Bescheid über das Schicksal von 50 Menschen, die im Gefängnis GLM einsaßen und verschwanden, während sie offiziell nach Ruanda geschickt wurden. Kongos Regierung will 1999 3.000 inhaftierte Tutsi ins Ausland – Ruanda, die USA und Benin – exiliert haben, angekommen sind in diesen Ländern weniger als 1.000. „Wo ist der Rest?“, fragt GPVHE-Vorsitzender Mugunga, der heute im Exil in Brüssel lebt.

Wird Kongos neuer Präsident Joseph Kabila Schritte zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen leisten? Mugunga verlangt eine „Geste der Versöhnung“. Noch immer säßen 400 im August 1998 festgenommene Tutsi in Haft. „Man hat ihnen gesagt, sie sollen nach Ruanda gehen, aber sie weigern sich, denn was haben sie da verloren? Es sind kongolesische Tutsi, keine Ruander. Nicht alle Tutsi sind Ruander.“

Und noch immer seien die Minister im Amt, die damals zum Mord aufriefen, sagt Mugunga. „Versöhnung kann es erst geben, wenn die Verantwortlichen für die Massaker vor Gericht kommen.“ Außerdem sollten die Opfer der Pogrome „würdig begraben“ werden.

Kannibalismus

Über die auf den Fotos gezeigten Akte des Kannibalismus ist Mugunga nicht überrascht. Er führt das auf den weit verbreiteten Glauben zurück, mit dem Verzehr eines starken Gegners seine Kraft zu übernehmen.

Verzehr von Menschenfleisch ist aus vielen Situationen auf der Welt bekannt. Es gibt bestätigte Berichte von Kannibalismus unter weißen Siedlern im Westen der USA im 19. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Japaner wegen Kannibalismus an einem US-Gefangenen verurteilt. Unbestätigte Vorfälle dieser Art wurden 1994 aus dem Völkermord in Ruanda und aus dem andauernden Krieg in Tschetschenien gemeldet. Während der Kolonialzeit des späten 19. Jahrhunderts unterstellten europäische Wissenschaftler „primitiven“ Völkern Menschenfresserei als Alltagsbetätigung; Afrikaner hingegen vermuteten, dass die vielen nach Übersee verfrachteten Sklaven dem Verzehr durch Weiße dienten. Selbst das christliche Abendmahl ist von Nichtchristen als Allegorie des Kannibalismus kritisiert worden. Der belgische Anarchist Jean Van Lierde, ein Freund und Berater des kongolesischen Befreiungshelden Patrice Lumumba, hat den probelgischen Politiker Albert Kalonji beschuldigt, 1961 sieben inhaftierte und ermordete Gegner verspeist zu haben. Kalonji regierte damals im gleichen Gebiet, aus dem die hier veröffentlichten Fotos kommen.

„Leichen am Spieß“

Der in Belgien lebende kongolesische Politologe Jean Omasombo, der ebenfalls aus Kasai stammt, erinnert sich an ähnliche Berichte aus der Hauptstadt Kinshasa zu Beginn des Kongokrieges im August 1998, als auch dort auf Anweisung der Regierung Kabila Tutsi gejagt wurden. „Man sagte mir, dass Leichen gegrillt worden seien, dass man sie am Spieß röstete, bis sie durch waren. Die Leute wurden aufgefordert, Holz und Papier für das Feuer zu holen“, erzählt er.

Omasombo erinnert sich an eine merkwürdige Szene im Stadtteil Lemba. Eine Familie betrauerte einen Toten, dessen Leichnam aus Europa heimgeschickt worden war. 200 Meter weiter lag die verkohlte Leiche eines Tutsi. Immer wieder gingen Trauernde vom „guten Toten“ zum „schlechten Toten“, versetzten dem einen Fußtritt und tranken dann ein Bier an einem Imbissstand in der Mitte, bevor sie zur Totenwache zurückkehrten. „Mir war, als erlebte ich eine Gesellschaft im Begriff, ihre moralischen Maßstäbe zu verlieren.“