Der lange Marsch auf Tin City

Schießen üben an Zombiepuppen aus Stahl und Stroh: Für den Band „Red Land – Blue Land“ hat der Dokumentarist Claudio Hils Manöverplätze der Nato und britisches Nahkampfgelände im ostwestfälischen Sennelager fotografiert

Bilder von Militär im Einsatz, so denkt man, sind bekannt bis zum Überdruss. Selbst die Verbreitung von Fotos bemitleidenswerter Opfer erscheint im medialen Umfeld als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln – jeder aufgeklärte Mensch weiß, dass letztlich die Feldherren bestimmen, was publiziert wird. Ob Nato im Kosovo oder russische Marine in der Barentsee: Politiker und Kommandeure aller Lager eint der Kampf gegen den schlimmsten Feind des Feindbilds, die Aufklärung.

Da verblüfft es schon ziemlich, wenn es einem Fotografen gelingt, einen neuen Blick auf das Thema zu finden. Der Kunstgriff des Essener Fotografen Claudio Hils: Er visualisiert den Krieg fernab jeder Kampfhandlung auf einem Truppenübungsplatz. Im ostwestfälischen Sperrgebiet Sennelager exerziert Hils vor, wie eine fotografische Erkundung aussehen kann, die eben nicht mit Gräueldarstellungen und Schocks operiert, sondern mit kühler Beobachtung.

Der Weg dorthin war mühsam und gewunden. Vor sechs Jahren führte die Arbeit am idyllischen Thema Landwirtschaft den Fotografen öfter in die Senne, und auf Anraten eines Ortskundigen nahm Hils damals eine offizielle Straße mitten durchs Sperrgebiet – Beflaggung am Eingang zeigt an, wann eine gefahrlose Passage möglich ist. „Ich fühlte mich wie in einem surrealen Film oder einer Zeitmaschine“, erinnert sich Hils, „das Auto holperte über Kopfsteinpflaster, und rechts und links der Piste lagen zerschossene Panzer im Gras.“ Hils folgte seiner Neugier und stoppte – was selbstredend verboten ist, ihm umgehend die Bekanntschaft mit einem Ranger und einen zügigen Rausschmiss einbrachte.

Zwangsläufig musste sich Hils aufs Täuschen und Tarnen verlegen. Unter dem Vorwand, an dem mannigfaltigen Ökosystem im Sperrgebiet interessiert zu sein, stellte er Besuchsanträge. Jahrelang tingelte der Fotograf mit offiziellen Begleitern durchs Gelände, fotografierte Baum und Strauch und brachte die Rede ganz behutsam auf die weniger unschuldigen Aspekte seines Ausflugziels. Langsam erschienen die Konturen eines Ortes, der gezeichnet ist von seiner gewaltsamen Historie: 1892 kampierten hier die ersten deutschen Soldaten in französischen Beutezelten, der Erste Weltkrieg hinterließ Unterstände, die Nazis bauten Panzertauchbecken und ein künstliches Wolgaufer; später übten Nato-Soldaten für Korea-, Golf- und zuletzt Kosovokriegseinsätze.

Hils mutete seinen Aufpassern und der Zensur seine Bilder nur in kleinen Dosen zu. Denn das strategische Ziel seiner Operation blieb bis zuletzt unerreichbar: Tin City, eine Übungskulisse für den Straßen- und Häuserkampf. Nach viereinhalb Jahren beharrlicher Versuche wurde ihm ein flüchtiger Blick ohne Kamera erlaubt. Erst die Entspannung im nordirischen Friedensprozess hob den Bann um das verbotene Dorf auf: Während die Briten mit Unterhändlern der IRA am runden Tisch saßen, ließen sie dem Fotografen im fernen Sennelager zwei Tage Fotofrist für ihr jahrzehntelang gehütetes Geheimnis.

Hils hat die knappe Zeit gut genutzt. Mit sarkastischem Scharfblick dokumentiert er, womit sich die Nahkampfspezialisten in Tin City herumschlagen müssen: ausrangierte Schaufensterpuppen, die ihre Ausstaffierung als Rentner, Puffmutter und Kneipier ebenso stoisch hinnehmen wie gelegentliche Volltreffer aus der Maschinenpistole. Die bizarren Bilder aus Tin City sind der Höhepunkt seines Buches „Red Land – Blue Land“, doch Hils ist ein Spezialist der leisen Töne und der gründlichen Komposition. Wie in einem früheren Buch über zehn Jahre deutsche Einheit („Neuland“, Edition Braus) umschreibt der Fotograf sein Thema sehr behutsam. Hochauflösende Bilder in zurückhaltender Farbigkeit zeigen erst Landschaften, dann das Übungsdorf, dessen Bewohnerattrappen und schließlich formatfüllende Zielscheiben mit den Umrissen menschlicher Figuren – eine Zoomfahrt von der harmlosen Heide in den Horror nackter Gewalt. Von der abstrakten Markierung einer Schießbahn aus nähert sich Hils’ Blick bis zum Einschussloch in der Windschutzscheibe eines Autos – direkt vor der Brust des Fahrers. Diese Motive graben sich ins Hirn wie ein böser Traum: Ramponierte Schaufensterpuppen agieren als zombieartige Stellvertreter jener Menschen, die Soldaten im so genannten Ernstfall begegnen.

Die perfekte Choreografie eines solchen Bildessays ist nur möglich, weil Hils seine Bücher kompromisslos realisiert – inklusive persönlicher Zuschüsse in empfindlicher Höhe. Was dem Absolventen der Essener Folkwang-Schule mit seinen Darstellungen gelungen ist, haben allerdings auch seine zähen Gegner in der britischen Militärbürokratie erkannt. Zu Recht fühlten sie sich nicht an den Pranger gestellt, sondern empfanden seine Arbeit als eine visuelle Studie über die Struktur des Militärischen an sich, unabhängig vom konkreten Ort. Deshalb öffneten sie Tin City für Journalisten, kurze Zeit nachdem „Red Land – Blue Land“ erschienen war.

ANDREAS LANGEN

„Red Land – Blue Land“, Hatje Cantz Verlag, 166 Seiten, 78 Mark