Kleingeistiges Brimborium

Teil II der Serie „Wir Kinder vom Potsdamer Platz“ – der Impetus, soziale Stadträume zu gestalten,ist in den 90ern gegenüber einer Architektur als Marketing-Ereignis in die Defensive geraten

von MICHAEL KASISKE

Dass sich in Berlin der Geist von Posemuckel breit mache, befürchtete Edzard Reuter. Der damalige Vorstandsvorsitzende der Daimler Benz AG warnte 1991 im Stadtforum eindringlich vor Kleinmut bei der städtebaulichen Entwicklung der vereinigten Stadt. Seine Worte klingen in mir nach, wenn ich heute die Türme am Potsdamer Platz sehe. Und ich denke an den Impetus als 19-jähriger Neuankömmling in Berlin, künftig eine soziale Architektur zu gestalten.

Mit der Planung der im ehemaligen Westteil der Stadt errichteten Viertel von Debis und Sony wurde ein Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung eingeleitet. Zum einen auf der „Benutzeroberfläche“, die – durchaus geläufig für die Kombination von Einkaufs- und Bürozentren – vor allem von verkaterten Touristen, cruisenden Aktentaschenträgern und zupackenden Haussheriffs bestimmt wird.

Zum anderen die veränderten Bedingungen, die ich als Planer erlebe. Etwa bei der mit Vorschusslorbeeren bedachten „public private partnership“, die es auch anderswo in Berlin gibt, doch durch die Größenordnung und die bereits vor dem Fall der Mauer begonnenen Kaufverhandlungen mit der Daimler Benz AG am Potsdamer Platz eine wegweisende Entwicklung in Gang setzte.

1990 wurden großzügig die Flächen zwischen Tiergarten im Norden und Landwehrkanal im Süden in die Planungen einbezogen, denn sie waren nichts anderes als ein großes, leeres Areal. Freilich eines, das durch den Mythos der Zwanzigerjahre und die Frontpropaganda des Kalten Krieges zu einer anregenden Projektionsfläche gesteigert worden war. Mit der Bezeichnung „Innere Peripherie“ prägte der Architekt Andreas Reidemeister einen zutreffenden Begriff für dieses abseitige Zentrum, das im realen Zusammentreffen von Wohnwagenidylle, nationalem Fokus und Durchgangsverkehr Berlins Vielfalt in Erinnerung hielt.

Vor diesem Hintergrund werden die Extreme deutlich, in denen sich die Stadtentwicklungspolitik nach der Vereinigung änderte. 1986, zu Beginn meines Architekturstudiums, war die Auftragslage in Berlin dürftig und die Bautätigkeit fast ausschließlich öffentlicher Provenienz. Nach der Diplomierung schien ich nur die Wahl zwischen Fassadendekorateur und sich dem Betrieb verweigernden Taxifahrer zu haben.

Wie sehr wir freilich einen gebenden Staat stillschweigend voraussetzten, zeigte die Empörung, als wir im dritten Semester eine Suppenküche in einem alten Moabiter Fabrikgebäude entwerfen sollten. Einerseits das Konzentrieren potenziell Bedürftiger, andererseits die bauliche Manifestation einer Stätte, die soziale Unterschiede aufzeigt, erregte Misstrauen und Unwillen zur Auseinandersetzung.

Der Fall der Mauer zeitigte einschneidende Änderungen in diesem Bewusstsein, als ich ab 1990 bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz als studentischer Mitarbeiter die Grundlagenpläne für den Wettbewerb „Potsdamer/Leipziger Platz“ aufbereitete. Ungewohnt aggressiv war der investive Druck von Daimler Benz AG und Sony, der in der Luft lag und die damalige Grünen-Senatorin Michaele Schreyer bedrängte; sie bemühte sich, für die mythische und nationale Bedeutung des Potsdamer Platzes eine Entsprechung zu finden und diese nicht primär durch kommerzielle Interessen besetzen zu lassen.

Das Wettbewerbsverfahren wurde 1991 von Schreyers Nachfolger Volker Hassemer im ersten schwarz-roten Senat fortgeführt. Sein Diktum „Den Tiger reiten“ imponierte, hatte er sich doch zum Ziel gesetzt, auf der einen Seite die Investoren, auf der anderen Seite die beteiligte SPD-Bauverwaltung zu bändigen. Das enttäuschende Ergebnis ist bekannt. Kein renommierter Architekt Rem Koolhaas, kein kosmopolitischer Getty-Direktor Kurt W. Forster konnten verhindern, dass der Entwurf des Münchner Büros Hilmer und Sattler als angebliches Sinnbild für die Struktur der herkömmlichen europäischen Stadt zum ersten Preis gekürt wurde. Meine Kollegen und ich, die beim Preisgericht mitarbeiteten, waren empört. Koolhaas kritisierte später in einer Protestnote den Ansatz des Senatsbaudirektors Hans Stimmann, geschichtliche Kontinuität bei einer hier längst verschwundenen Blockrandbebauung anzusetzen und das Potenzial der innerstädtischen Brache schlicht zu negieren.

Ungelöst blieb der Widerspruch zwischen Geschichtsversessenheit – die Unbedingtheit einer berlinischen Struktur – und Geschichtsvergessenheit – die Ignoranz gegenüber den räumlichen Spuren der Teilung. Bei dem folgenden Wettbewerb für das Debis-Areal zeigte sich, wie schwer die städtebaulichen Vorgaben der „europäischen Stadt“ zu erfüllen war. Die für mich unerwartete Prämierung der nur auf Effekte abzielenden Entwürfe von Renzo Piano und Helmut Jahn im Herbst 1992 sowie der Erfolg kurzfristigen wirtschaftlichen Denkens beruhte auf einem im Studium noch unbekannten Aspekt: Architektur als Marketing-Ereignis. Ddas war eine überraschende Realität.

Mein Diplom „Der Ort. Stadtkultur – Stadtraum – Stadtbaustein“ 1993 hingegen sollte idealistisch und zugleich realistisch sein: Idealistisch war der Ansatz, auf einer brachliegenden Fläche ähnlich dem Potsdamer Platz einen sukzessiven Prozess loszutreten, der historisch kontinuierlich die Veränderung in diesem Stadtraum fortsetzt. Statt kommerzieller Nutzung entwickelte ich strukturelle, an realen Bedürfnissen orientierte „Bausteine“ für die städtische Gesellschaft. Letztlich hätte der Entwurf, ein Haus für Treber und ein weiteres für Jugendliche, auch ein Switchboard für Obdachlose sein können; jedenfalls ein Schritt zu einer Stadtkultur, die Teile von Grund und Boden für die aktuellen Erfordernisse ihrem vielschichtigen Habitat zur Verfügung stellt. Die Suppenküche wirkte nach.

„An Stelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt –“, dieser offen endende Satz aus einem Gedicht von Nelly Sachs schloss die Diplomarbeit. Wenn man dem Beruf einen Teil der eigenen Identität zubilligt, scheint darin der Modus unserer Generation paraphrasiert worden zu sein: Das sachliche Zusammenwirken und Abwechseln von Vision und Pragmatismus, je nachdem, welcher benötigte Auftrag sich gerade bietet, fügen sich zu Patchworkbiografien, deren Teile mit dem Anspruch sozialer Architektur mal mehr, mal weniger zu tun haben. Das Selbstverständnis wandelte sich ohnehin vom generalistischen Architekten zum Planungsmanager, ob auf der Baustelle oder als Erfüller singulärer Aufträge. Freilich, auch bei KollegInnen, die inzwischen als Choreografen oder Restaurateure „fremdgehen“, ist wie bei mir das Einvernehmen mit der Architektur als gestaltende Disziplin ungebrochen. Die Reduzierung der „public private partnership“ am Potsdamer Platz auf Abschreibungsbauten wird als vergebene Chance für den öffentlichen Raum kritisiert, und das auch, wenn man selbst in irgendeiner Form von dem Projekt Nießnutz hatte.

Hat dieses mit großem Brimborium Gebaute einen bleibenden Wert? In der Dimension hatten Reuters Worte offensichtlich ihre Wirkung, in urbaner Hinsicht – die Stadt als kollektiver Ort – sind die Weltkonzerne selbst nicht über den berüchtigten Kleingeist hinausgekommen. Nicht auszuschließen möchte ich immerhin, dass mit der Etablierung als Veranstaltungsort, wie erst zur Berlinale, eine neue Aneignung beginnt.

Der Autor, aufgewachsen in NRW, lebt seit 1984 in Berlin und studierte Architektur an der TU und der HdK. Er arbeitet als Konsultant und Autor für Architektur, Fotografie und Design.