Dem neuen EU-Vertrag zustimmen?

ja

Wer den Nizza-Vertrag ablehnt, spielt damit unbewusst das Spiel der EU-Gegner, meint der deutsche Grüne CHRISTIAN STERZING

Der Vertrag von Nizza ist gewiss kein großer reformerischer Wurf. Das Prinzip der Einstimmigkeit dominiert immer noch in zu vielen Politikbereichen. Gerade in jenen, die dringend politischer Gestaltung bedürften – zum Beispiel um dem Steuerwettlauf der Staaten zu mindern – ist die Hürde für eine handlungsfähige EU zu hoch. Zwar kann jetzt öfter als früher mit Mehrheit entschieden werden, doch vergaßen die Regierungschefs, auch die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments zu erweitern. Das Demokratiedefizit wurde nicht vermindert. Nationale Interessen und nicht das Voranbringen der Integration dominierten.

Aber Nizza hat die Tür zur Erweiterung der EU geöffnet und die Voraussetzungen für eine grundlegende Reformdebatte geschaffen. Die letzten Hürden für die Erweiterung sind nun bewältigt. Die Bekundung, dass neue Mitglieder bereits bei den Europawahlen 1994 dabei sein sollen, wurde in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern zufrieden kommentiert.

Jede Forderung, den neuen Vertrag nicht zu ratifizieren und das komplexe Verhandlungspaket aufzuschnüren und neu zu verhandeln, sendet daher nicht nur falsche Signale an unsere Nachbarn, sondern gefährdet tatsächlich den Erweiterungsfahrplan – auch wenn die Forderung in edelster Absicht vorgebracht wird. Denn die ehrenwerten Motive werden sich nur unschwer von weniger guten Absichten trennen lassen. Bereits jetzt reihen sich prinzipielle Gegner von Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union in die Reihen der Nizza-Kritiker ein. Aber nicht nur in Warschau und Prag, in Budapest und Bratislava wäre die Frustration groß, auch Paris würde wohl mehr als verschnupft reagieren, wenn ausgerechnet der Bundestag in Berlin den während der französischen Präsidentschaft unter großen Mühen ausgehandelten Vertrag von Nizza in den Papierkorb werfen würde. Wer über das Ergebnis von Nizza neu verhandeln möchte, muss nicht nur sagen, was verbesserungswürdig ist. Er muss auch analysieren, warum der Vertrag so ist wie er ist. Und er muss erklären, was seinen Optimismus auf substanziellere Ergebnisse begründet. Europa baut sich weder von selbst, noch entsteht es allein durch gute Absicht. Es geht um Interessen, nationale Identitäten und politische Perspektiven. Gegen die Nichtratifizierung spricht vor allem, dass sich die Determinanten des Entscheidungsprozesses seit Nizza nicht verändert haben. Fortschritte im europäischen Integrationsprojekt wurden immer dann erzielt, wenn es gelang, divergierende nationale Interessen zu synchronisieren. Die Bereitschaft, partikulare Interessen dem großen Ganzen unterzuordnen, besteht erfahrungsgemäß nur, wenn größere institutionelle Reformen mit einem ausstrahlungskräftigen politischen Projekt verbunden werden, so wie das beim Binnenmarkt oder der Währungsunion war. Nicht erst seit Nizza fehlt es an einem Projekt von vergleichbarer Perspektive. Die Erweiterung wird eher als Vollzug einer historischen Notwendigkeit gesehen, und eben nicht als eine auch in die Gesellschaften hineinstrahlende politische Vision.

Zu den größten Enttäuschungen der letzten Jahre zählt, dass es trotz des Machtverlustes neoliberaler Regierungen in Europa den Linksparteien nicht gelang, die europäische Agenda mit einem originären Projekt neu zu beleben. Der „dritte Weg“ europäischer Sozialdemokratien wird zwar mit der Globalisierung legitimiert, aber die vielfach beschworene Modernisierung wird politisch zumeist nur national dekliniert.

Durch eine Ablehnung des Vertrags entsteht jedenfalls keine neue politische Perspektive. Nizza eröffnet vielmehr eine solche: Bis 2004 sollen nun die Zukunftsfragen der Union in Angriff genommen werden. Nicht zuletzt auf deutschen Druck hin steht die Verfassungsfrage jetzt auf der europäischen Agenda. Der deutsche Außenminister hatte die Europadebatte im letzten Jahr neu belebt, der Gipfel trug dem nun Rechnung. Der vereinbarte Post-Nizza-Prozess zwingt zur Zukunft. Kompetenzabgrenzung und Gewaltenteilung sind Eckpfeiler dieses Diskurses. Aber sie dürfen eben nicht nur als Fragen des institutionellen Zuschnitts diskutiert werden, sondern müssen sich mit politischen Inhalten verbinden. Demokratisierung, Partizipation und Ausbau des europäischen Modells einer solidarischen und ökologischen Gesellschaft sollten dabei die inneren Koordinaten dieser Debatte sein. „Post-Nizza“ bietet die Chance, institutionelle Reformen mit einem politischen Projekt zu verbinden. Das geht nicht ohne Streit. Der aber lohnt. Nizza abzulehnen – das lohnt die Mühe nicht.

nein
Dem Vertrag von von Nizza kann man nur zustimmen, wenn die Parlamente mehr Macht bekommen, sagt der österreichische Grüne JOHANNES VOGGENHUBER

In Nizza hat sich eine alte Erfahrung bestätigt: Regierungen, die sich der Aufsicht ihrer Parlamente entwinden, neigen dazu, Unfug zu treiben. Das Scheitern des EU-Gipfels von Nizza kann so niemand wirklich überraschen. Die „Helden“ von Nizza sind jene, die erfolgreich vermeintliche Nationalinteressen verteidigt haben. Seit dem Vertrag von Maastricht 1992 gerät die politische Einigung Europas so mehr und mehr unter das Regime der Regierungen. Die Kommission wurde geschwächt, das Europäische Parlament kurz gehalten und der Europäische Gerichtshof in den sensibelsten Bereichen für unzuständig erklärt. Der Gipfel von Nizza hat diese Entwicklung auf die Spitze getrieben. Der nach vier qualvollen Sitzungstagen erreichte Kompromiss ist so mager, dass nicht einmal die Bescheidensten in diesem Ergebnis noch einen Fortschritt erkennen können.

Dennoch ist in Nizza Erstaunliches passiert: Die Staats- und Regierungschefs der 15 Mitgliedstaaten konnten ihr Scheitern als Verfassungsgeber Europas nicht länger verschleiern. Mit ihrer „Erklärung zur Zukunft der Union“ mussten die Fünfzehn zugeben, dass eine „eingehendere und breiter angelegte Diskussion über die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union“ unter Beteiligung der Parlamente und der Zivilgesellschaft notwendig ist.

Diese Erklärung über den so genannten „Post-Nizza“-Prozeß eröffnet den Parlamenten eine einmalige Chance. Die bislang angewandte Methode, über den Ausgleich von nationalen Interessen Fortschritte für die europäische Einigung zu erzielen, funktioniert nicht mehr. Jetzt muss die Einleitung des seit langem geforderten Verfassungsprozesses durchgesetzt werden.

Mit einer bloßen Ablehnung des Vertrags ist das jedoch nicht zu erreichen. Ein schnelles Nein führt bestenfalls zu einer neuen Regierungskonferenz. Vielmehr gilt es nun, den Kampf mit den Herren von Nizza über die Form der nächsten Vertragsreform aufzunehmen: Die Frage muss beantwortet werden, wer ihre Autoren sein sollen. Zugleich hat das Europäische Parlament die Aufgabe, den Beitrittskandidaten deutlich zu machen, dass ein solcher Verfassungsprozess, an dem sie beteiligt sein müssen, die Erweiterung nicht in Gefahr bringt, sondern in Wirklichkeit erleichtert.

Ein erfolgreiches und zudem demokratisches Modell für diesen Prozess liegt vor. Niemand bestreitet den Erfolg jenes Gremiums, das im letzten Jahr die Europäische Charta der Grundrechte ausgearbeitet hat. Diese Versammlung von Vertretern der Mitgliedstaaten, der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der Kommission hat in wenigen Monaten einen Grundrechtskatalog ausgearbeitet und bewiesen, dass man europäisches Recht auch ohne strikte Geheimhaltung entwickeln kann. Dieses Gremium hat sich den Namen „Konvent“ gegeben, auch um klar zu stellen, dass die Ausarbeitung von Verfassungstexten originäre Aufgabe der Parlamente ist.

In der Erklärung über die Zeit nach Nizza hat der Rat eine Aufgabenliste für diese – wie es heißt – „breiter angelegte Debatte“ vorgegeben, mit der sich die Parlamente nicht zufrieden geben sollten. Die Kompetenzverteilung zwischen Brüssel und den Nationalstaaten, die Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen Architektur, die Vereinfachung der Verträge und die Entscheidung über den rechtlichen Status der Charta der Grundrechte – die Beantwortung all dieser Fragen reicht nicht aus für das eigentliche Ziel, die Errichtung einer europäischen Demokratie. Aus diesem Grund sollten die nationalen Parlamente ihren taktischen Spielraum beim Ratifizierungsprozess jetzt nutzen und den Regierungen ein demokratisches Verfahren und ein umfassendes Verhandlungsmandat abringen. Das Ultimatum sollte deutlich sein: Nur wenn der Europäische Rat seinen illegitimen Anspruch, Verfassungsgeber Europas zu sein, aufgibt und im Dezember dieses Jahres im belgischen Laeken einen Konvent mit einer Vertragsreform beauftragt, kann der Vertrag von Nizza hingenommen werden. Es ist Zeit für einen Aufstand der Parlamente.