Nur ein zögerliches „Helau“

Beim Karnevalszug treffen missionierende Rheinländer auf skeptische, aber durchaus begeisterungsfähige Berliner. Über 100.000 sollen es gewesen sein

Rolf Vieting ist nervös. Er zieht an seiner Zigarette, bläst den Rauch in die eiskalte Luft und rennt hektisch zwischen den Karnevalswagen in der Wilhelmstraße umher. „Hätten wir doch bloß so ein Wetter wie letzten Sonntag“, fleht der 53-Jährige. Vieting ist Präsident der „Stadtgarde Rot-Gold“ und zugleich „Zugmarschall“. Er trägt eine rote Uniform, an seiner Brust baumeln zahlreiche Orden. In den letzten vier Monaten habe er jeden Tag gearbeitet, um den ersten Karnevalszug seit 1958 durch Berlin rollen zu lassen, erzählt der Westfale, der seit 25 Jahren in Berlin lebt. Und gestern war es so weit.

Während Vieting von Kamerateams umringt wird, halten sich weiter hinten einige Funkemariechen durch Wippen und Tanzen warm. Vor dem Wagen der Kreuzberger Travestiegruppe „Sunnyboys“ prostet Ronny Kröbel seinen Kollgegen zu. In seinem rosa glänzenden Fliegeranzug wirkt der 37-Jährige wie eine Kreuzung aus Miss Piggy und Captain Kirk. „Seit Jahren machen wir zu Karneval eine Travestieshow“, erzählt der Berliner stolz. „Es gibt hier also durchaus karnevalistische Wurzeln.“ Auch vor dem rotweiß geschmückten Wagen der Berliner Karnevalsgesellschaft lässt die gute Stimmung langjährige Narrenerfahrung vermuten. Doch eine eigene Berliner Tradition sucht man hier vergebens: Zu Seemannsliedern und bayerischen Volksweisen führt ein uniformierter Narrenkappenträger nach kölschem Vorbild eine etwa 50-köpfige Polonaise an. Gleich nebenan befindet sich der „Verein der Aachener zu Berlin“ offenbar noch in der Aufwärmphase. Mit einer Flasche Bier in der Hand wippt Joseph Heller von einem Bein aufs andere. „Wenn wir gleich auf dem Wagen sind, geht’s los“, verspricht der Karnevalsprofi. „Wir Rheinländer müssen ja mit gutem Beispiel vorangehen.“

Als es dann aber losgehen soll, braucht Rolf Vieting Starthilfe: Sein Wagen an der Spitze will nicht mehr anspringen, ein Kollege muss mit Überbrückungskabeln aushelfen. Dann rollt der Zug an. Bezeichnenderweise begleitet von einem Lied über das „schöne Köln am Rhein“. Der „Zugmarschall“ steht auf dem rot-goldenen Prunkwagen der Stadtgarde und ruft den Zuschauern ein dreifaches „Berlin!“ zu. Die Antwort „Heijo!“ kommt zögerlich. Einige wissen wohl nicht so recht, was sie antworten sollen, und murmeln schüchtern „Helau“.

Unter den Linden empfangen die Berliner den Zug mit neugieriger Skepsis. Die meisten stehen abwartend am Straßenrand und schauen nach oben zu den mäßig geschmückten Festwagen. Nur die wenigsten der 100.000 Zuschauer, die nach Polizeiangaben gekommen sind, haben sich verkleidet. Das Fangen und Einsammeln der „Kamelle“ scheint vielen jedoch Spaß zu bereiten. Einige spannen dazu ihre Schirme auf, andere beginnen sogar verhalten zu tanzen und zu schunkeln. Eine Mittfünfzigerin im braunen Pelzmantel hat sich blaue Sternchen an die Wangen geklebt und versucht mit Verve, die fliegenden Süßigkeiten und Blumensträußchen mit ihrer weißen Strickmütze aufzufangen. „Ich bin begeistert“, versichert eine andere. Obwohl es ihr erster Karnevalszug sei. Oder vielleicht gerade deswegen?

Von der Pracht und Originalität der Züge in den rheinischen Hochburgen sind die Berliner noch weit entfernt. Auch Themenwagen sucht man vergebens. Als nach einer Stunde der Wagen des Prinzenpaares als letzter die Friedrichstraße kreuzt, demonstrieren die Narren jedoch Optimismus: „Auf Wiedersehen im Jahr 2002“ steht auf der Rückseite. STEFAN KAISER