Exotisches Baströckchen oder tumbe Narrenkappe?

Karnevalsveranstaltungen verschiedenster Provenienz überziehen am Wochenende die Stadt. Viele Berliner lassen die fremden Bräuche kalt

Gestern Mittag, 13 Uhr, am Alex: Im eigens errichteten Karnevalszelt steht ein älterer bärtiger Mann und nippt an einer Cola-dose. Ein paar Tische weiter sitzt eine junge Frau mit rot gefärbten Haaren. Beide schweigen vor sich hin. Hinter der Theke wuseln ein paar Helfer, aus den Boxen klingt in eher verhaltener Lautstärke kölsche Stimmungsmusik. Draußen dreht ein leeres Karussell einsam seine Runden, die meisten der Getränkebuden sind auch verwaist. Eigentlich sollte hier heute „der Bär tanzen“. So steht es zumindest auf der Programmtafel vor dem Zelt. Hat das nasse Wetter die Narren vergrault, oder sind vielleicht gerade alle in die Mittagspause verschwunden?

Vielleicht haben sich die unerfahrenen Berliner auch im Veranstaltungsdschungel verirrt, der in diesem Jahr zur fünften Jahreszeit angeboten wird. Allein der neu gegründete Verein „Karnevals-Zug Berlin“ organisiert sieben Veranstaltungen an sechs Tagen. Hauptattraktion soll dabei der große Karnevalszug am Sonntag sein, für den der Verein 100.000 Zuschauer erwartet. Dazu kommen zahlreiche weitere Partys und Prunksitzungen verschiedenster Veranstalter. Wie kann also der interessierte Berliner die Spreu vom Weizen trennen? Gibt es überhaupt Weizen im närrischen Treiben? Um nicht die Orientierung zu verlieren, empfiehlt sich eine kleine Karnevalskunde für Anfänger.

Da wäre zum einen der rheinische Karneval, von zahlreichen Bonnern, Kölnern und Düsseldorfern sozusagen auf dem Verwaltungswege an die Spree importiert. Er zeichnet sich in erster Linie durch unverwüstliche Fröhlichkeit, hahnenkammartige Kopfbedeckungen und einen derben Schenkelklopfer-Humor zwischen Infantilität und Obszönität aus.

Unter Pappnasen und Funkenmariechen fühlt sich der karnevalistisch unbeleckte Berliner aber eher unwohl. Und auch mit den rheinischen Gepflogenheiten und Bräuchen tun sich die meisten noch schwer. Wer am Donnerstag von wild gewordenen „Möhnen“ kölscher Herkunft „gebützt“ wurde oder gar durch hinterhältige Attacken seine Krawatte verlor, mag das befremdende Gefühl verspürt haben, das einen bei erstem Kontakt mit dieser Form des Karnevals ereilt.

Ob der eher südamerikanisch gestaltete Karneval in der Kulturbrauerei mehr Vertrautes bietet, ist fraglich. Zumindest bleibt man dabei aber von „Humtata“ und stumpfsinnigen Kalauern in R(h)einkultur verschont. Stattdessen lässt sich zu Salsa, Rumba und Merengue hervorragend das Baströckchen schwingen.

Für die besonders Mutigen halten die närrischen Tage eine Vielzahl an Geheimtipps parat. Besonders aufregend und exotisch: Karneval im Einkaufszentrum. Begeisterung pur ist etwa unter den Neuköllnern zu erwarten, wenn Prinz Thomas I. und Prinzessin Birgitta I. heute gut gelaunt winkend durch die Gropius Passagen ziehen. Immerhin verspricht das Programm neben Büttenreden und Showtanz auch zünftige Blasmusik und lustige Parodien. Na dann „helau“ und „Heijo“. STEFAN KAISER

Das Restprogramm für die närrischen Tage: In der Kulturbrauerei sind heute abend kubanische Klänge von Rumba bis ChaChaCha zu hören. Live: Pichy Igba Ile Ashes. Am Rosenmontag steigt ein Kostümfest mit Elektropop von DJ Rolle Rolle und Schirmherrin Marcella M. Drag Queens haben freien Eintritt.Der rheinische Karneval ist heute bei der Kostümsitzung der Stadtgarde Rot-Gold zu erleben. Morgen steht um 13.11 Uhr der große Zug von der Ecke Wilhelmstraße/Unter den Linden bis zum Roten Rathaus auf dem Programm. Anschließend soll, wie auch am Rosenmontag, im Zelt auf dem Alexanderplatz mit DJ Sascha gefeiert werden. Am Dienstag gibt es für die Kleinen zum Abschluss noch den Kinderkarneval. Natürlich ebenfalls auf dem Alex.