Bretter, die die Welt bedeuten

An einem kalten Februartag 1601 stach das erste Schiff der englischen Ost-Indien-Kompanie in See. Bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1858 sollten tausende folgen. Ihre Gewürze waren Gold wert, ihre Dramen bühnenreif. Eine kurze Geschichte über die glücklosen Anfänge des ersten globalen Unternehmens

von ANNA SCHAFFNER

Weiß brennt die Sonne auf die Planken der „Red Dragon“. Ein paar Matrosen kalken das Deck. Insekten schwirren um Mangroven, Haie kreuzen den Äquator. Plötzlich erfährt die Ruhe eine empfindliche Störung. To be or not to be jammert da einer und die Fauna zieht mitfühlend den Kopf ein. Welcher Hamlet da fragt, das verschweigen die Chroniken. Ein Matrose vermutlich oder ein Schiffskoch. Wer weiß? Der Regisseur dieser ersten Shakespeareinszenierung südlich des Äquators heißt William Keeling, Kapitän der dritten Expedition der Ost-Indien-Kompanie anno 1607. Sein Ziel, die sagenhaften indonesischen Gewürzinseln, liegt noch fern, und kein Wind bauscht die Segel. Also werden Kostüme genäht und Monologe gelernt, um der Langeweile zu entgehen und die Crew von Schlaf und Spiel fern zu halten. In der dreijährigen Odyssee wird es nicht die letzte Inszenierung gewesen sein.

Die Anfangsjahre der Kompanie sind durchsetzt von absurden und düsteren Geschichten. Der geadelte Pirat Sir Francis Drake hatte durch seine Weltumsegelung 1577 die Machbarkeit solcher Unternehmungen demonstriert. Voll beladen mit erstohlenem Gold und Gewürzen segelt er über die Themse und entzündet die Fantasien der Londoner Dichter und Kaufmannschaft. Letztere hatten in den Jahren elisabethanischer Herrschaft einen nie gekannten Status erlangt: Sie verfügen über die notwendigen finanziellen Mittel und entsprechenden unternehmerischen Ehrgeiz. Gestützt wird ihr Selbstvertrauen durch die neuesten Errungenschaften der Navigationstechnik und Kartografie. Im Südmeer bewahrheiten sich viele der neu gezogenen Küstenlinien. Die Engländer versuchen zudem profitables Unternehmertum mit kühnem Entdeckergeist zu paaren. Sie suchen die legendäre Nordostpassage, den eisfreien Pol, und finden lediglich einen Narwahlzahn. Sie wähnen sich nahe China, dem Land der Einhörner, wie die Alten glauben. Dort bleiben sie, wie später viele mehr, bei der Suche im Eis stecken.

Der Drang in den Norden hat Gründe. Die päpstliche Teilung der Welt in eine portugiesische und eine spanische Hälfte verleiht den beiden Nationen quasi ein Monopol auf die bekannten Weltmeere und den überseeischen Handel. Mehr noch als die kriegerische Fehde fürchten die Engländer jedoch die Tropen und ihre Krankheiten. Zu Recht, wie sich zu spät erweisen wird.

Die Risikofreude der Investoren ist dennoch ungebremst. Profit soll her, und zwar möglichst schnell. Eine Flotte wird ausgerüstet, eine neue bizarre Geschichte geschrieben. Das Kommando untersteht dem wohlhabenden Abenteurer Edward Fenton. Die Order der Kaufleute ist klar. Direktkurs auf die Molukken, Karten zeichnen, Handelshäfen finden und mit einem Schiff voller Muskatnüsse, Nelken, Zimt und Pfeffer so schnell wie möglich nach Hause segeln. Auf See kann man solche Dringlichkeit jedoch getrost ignorieren. Fenton plündert Schiffe und verlässt nicht einmal den Atlantik. Stattdessen sammelt er auf St. Helena, dem späteren Verbannungsort Napoleons, seine Offiziere um sich und proklamiert sich 1582 zum König der Insel.

Das ist nun wahrlich der Stoff, aus dem Geschichten sind. Für Shakespeare und seine Zeitgenossen ist die Jagd nach der Muskatnuss ein unerschöpflicher Fundus. Für die Investoren ein böser Traum, aus dem sie nicht erwacht wären, hätte die englische Flotte nicht 1588 die spanische Armada geschlagen. Wichtiger als dieser Balsam für das nationale Selbstbewusstsein sind für sie jedoch die wirtschaftlichen Erfolge der Holländer. Die Gewürze vom Deck der Schiffe riechen bis in die traurigen englischen Kaufmannsnasen.

Den Anstoß für neue Expeditionen bildet eine Konzession Elisabeths I. Sie garantiert ein zunächst fünfzehnjähriges Monopol der Kaufleute auf den ostindischen Gewürzhandel. Die Grandest Society of Merchants in the Universe nimmt Gestalt an. Drei Schiffe werden gechartert. An einem kalten Februartag 1601 wird die neue Flagge gehisst. Ein blaues Feld mit dreizehn rotweißen Streifen nimmt die spätere Flagge der amerikanischen Unabhängigkeitsstreiter vorweg. James Lancaster, Veteran der Seefahrt, der 1591 eine Flotte in ein finanzielles und menschliches Desaster gestürzt hat – 174 Matrosen starben –, übernimmt das Kommando über 480 Seeleute und 36 Faktoren: Außenhandelsvertreter, die Handelsstützpunkte errichten und wirtschaftliche Kontakte knüpfen sollen.

Doch wofür eigentlich der ganze Aufwand? Wozu die vielen Toten, warum diese riesigen Investitionen? Für ein paar Muskatnüsse? Für Zimt?, fragen die Londoner.

Für die Erotik!, rufen die Fürsten und schwören auf die aphrodisische Wirkung von Muskat. Und für den Gaumen Pfeffer! Berge von Pfeffer, damit die anderen auch schmecken, was man hat. Für die Konservierung, schreien sinnlos die Bauern (die Muskat ohnehin nicht bezahlen können). Für die Medizin, schreien die Ärzte. Muskatnüsse und andere exotische Gewürze gelten als Allheilmittel, von der Pest bis zur Flatulanz, vom Keuchhusten bis Diarrhö. I must have saffron to colour the warden pies; . . . nutmegs seven, arace or two of ginger, heißt es in Shakespeares „Wintermärchen“.

James Lancasters Expedition ist ein finanzieller Erfolg. Nach knapp dreijähriger Reise sind seine Schiffe zum Bersten mit Pfeffer und Muskat gefüllt. Der Verlust an Menschenleben interessiert dabei wenig, und bei Ankunft der Schiffe herrscht in London die Pest. Die kann auch die Muskatnuss nicht verhindern.

Die Politik der Ost-Indien-Kompanie unterscheidet sich deutlich von der anderer Unternehmungen. Der rein private Unternehmergeist hat es schwer gegen die im Staatsauftrag segelnden Kreuzritter aus Spanien und die vom Oranjekönig unterstützten Holländer. Militärische Annexionen sind vor der Kolonisation Indiens nicht das Ziel. Vielmehr versucht man monopolistische Handelsverträge mit regionalen Potentaten zu erlangen, besticht mit Geschenken, feindet die Konkurrenz an und greift nur selten zur Kanone. Mit gutem Grund. Die befestigten Anlagen der Städte Indiens oder Indonesiens würden den kleinen englischen Flotten schnell den Garaus machen.

Die kleinen Gewürzinseln mit ihrer Vielzahl machtloser Könige werden jedoch zum Opfer frühkapitalistischen Profitzwangs. Und auch zwischen den konkurrierenden Flotten stehen die Zeichen auf Krieg. Handelsstützpunke werden genommen, Schiffe versenkt, Monopole missachtet, Warenhäuser angezündet. Trotz allen Kummers um verlorene Schiffe und Pfefferkörner bleibt das Geschäft einträglich. Der Tod kommt dabei auch nicht zu kurz. Skorbut, Ruhr, Typhus und andere tropische Krankheiten fordern ihren Tribut. Ihre Beute beläuft sich nach den ersten drei Expeditionen auf achthundert Mann.

Lancasters Reisen sowie die späterer Kapitäne erweitern auch den ethnologischen Blick. Nur wenige sind auch bereit, sich darauf einzulassen. William Hawkins etwa schafft es am Hof des indischen Großmoguls – der seinerseits den Engländer als willkommenen Exoten begrüßt – zum Inghlis Khan. Den großen Rest der Weltensegler trübt finsterster Aberglauben. Menschen mit Hörnern bevölkern unbekannte Inseln, andere mit grüner Haut. Die überladenen Reisegeschichten Mandevilles und die detailliert ins Abseitige führenden Chroniken Pigafettas finden in den Geschichten fantasiebegabter Seemänner erstaunliche Erweiterungen. Seeungeheuer, aufgespießte Schädel, Kannibalen – dem Entsetzen sind keine Grenzen gesetzt.

Auf die Chroniken und Souvenirs ihrer Reisen stürzen sich die elisabethanischen Barden. Seeabenteuer befriedigen die Neugier für neue Welten und werden zu Bestsellern der Zeit. Anthropophagen, Menschen, deren Köpfe auf ihrem Rumpf sitzen, finden sich im „Othello“; und Coree, erster Südafrikaner am englischen Hof, weigert sich, den guten Wilden zu spielen. Shakespeare wird seine Geschichte wohl gekannt haben und stattet Caliban im „Sturm“ mit zahlreichen übereinstimmenden Attributen aus.

Vor Shakespeares stürmischer See kapitulieren viele Schiffe der englischen Flotte. Doch gibt man das Rennen um die Gewürze keineswegs auf. Ein Handelsstützpunkt in Bantam, dem kommerziellen Zentrum der Inselwelten, wird errichtet: Hier sterben die Seeleute zwar wie die Fliegen, doch füllen sich auch die Bäuche der Schiffe. Immer dringender wird die Nachfrage nach Gewürzen im Heimatland – die Jahre 1609 bis 1616 bringen dann auch nie gekannte Gewinnquoten. Millionen an Pfund werden umgesetzt, der Bedarf steigt; ebenso das Renommee der Kompanie.

Selbst für die englische Aristokratie gehört es zum guten Ton, in der bürgerlichen Kompanie Aufnahme zu finden. Subskriptionen werden ausgeschrieben, die Risikofreude kennt keine Grenzen. Schiffe, deren Kapazitäten erst wieder im Zeitalter der Dampfmaschinen erreicht werden, laufen vom Stapel; die potenziellen Investitionsmengen werden immer größer.

Erste Handelsniederlassungen an der indischen Küste kündigen als Vorboten der späteren Entwicklung die Prämissen der Kompanie an. Dabei wird im Zuge einer Stärkung der englischen Exportwirtschaft ein Dreieckshandel angestrebt – im Austausch für englische Wolle soll er erst indische Baumwolle und dafür tonnenweise Muskatnüsse bringen.

Die überzogene Euphorie währt nur kurz. Die Überlegenheit der holländischen Konkurrenz in der südostasiatischen Inselwelt wird deutlicher; und die duldet bald keine Fremdeinflüsse mehr. Forts werden errichtet, Verträge mit einheimischen Herrschern werden fingiert; das anfangs vertretene Prinzip der Handelsfreiheit relativiert sich zunehmend bei eigener Dominanz.

Immer weiter in den Osten dringen die beiden Kompanien vor, immer wichtiger wird die Kontrolle nicht nur über die Handelsplätze, sondern auch über die Anbauregionen. Auf den Banda-Inseln, den Gewürzinseln, die so klein sind, dass man sie auf Landkarten vergeblich sucht, entspinnt sich der groteske und blutige Kampf um das Monopol über die Muskatnuss.

Die militärische Präsenz am Ende der Welt trifft zuerst die rechtmäßigen Besitzer. Sie werden vertrieben, getötet, missbraucht, zur Übergabe ihrer Inseln oder zu wenig profitablem Handel gezwungen. Die Holländer sind auch hier skrupelloser in ihrem Vorgehen. Den Engländern bleibt lediglich eine Insel, Pulo Run, voll mit Muskatnüssen, aber nur eineinhalb Kilometer lang und einen breit. Ein Dokument wird unterzeichnet. Die Übergabe dieser winzigen Insel wird sich als wertvoller erweisen als zehn Schiffe mit Gold.

Doch zuerst gilt es, Pulo Run gegen die Holländer zu verteidigen. Vier Jahre kämpfen der Cheffaktor Nathaniel Courthope und 35 Männer gegen Hunger, Hitze und Hollands Flotte. Sie verlieren, und keiner der sonst so geschichtsverliebten Engländer setzt ihnen ein Denkmal.

Als wenig später auch noch ein holländisches Massaker an englischen Händlern auf der Insel Amboyna stattfindet, scheint das Rennen um die Gewürzinseln für immer verloren. Die wenigen Überlebenden kehren nach Hause zurück. Anders als im „Kaufmann von Venedig“ folgen ihnen zu guter Letzt keine Schiffe voll mit Gewürzen. Ihr Schicksal scheint besiegelt. Wäre da nicht dieser Vertrag über die Besitzverhältnisse auf der Insel Pulo Run und die Schmach der letzten Niederlage. Zwar werden als Kompensation zwei holländische Schiffe im vertrauten Kanal gekapert, die Wunde bleibt trotzdem tief. Schadenersatz wird gefordert, auf beiden Seiten. Die Atmosphäre zwischen den beiden Staaten ist gespannt. Militärische Drohungen werden immer lauter. Doch siegt letztlich die Diplomatie.

Schon lange ist den Engländern auch Neuamsterdam, die kleine holländische Kolonie an der Mündung des Hudson und East River, ein Dorn im Auge. Sie stellen Besitzansprüche, ähnlich wie sie die Holländer bei Pulo Run fordern. Und so wird, trotz heftiger Vorbehalte seitens der Engländer, am Morgen des 18. April 1667 ein Vertrag unterzeichnet, dessen künftige Bedeutung wohl niemand vorausahnen kann.

Die kleine Insel Pulo Run im indonesischen Inselarchipel wird gegen Manhattan, die kleine Insel in New York, getauscht. Der große Apfel tritt an die Stelle der kleinen Muskatnuss. Die zweite, die indische Phase der Kompanie kann beginnen.

ANNA SCHAFFNER, 22, arbeitet als Literaturwissenschaftlerin an der Uni Edinburgh