Chuchichäschtli mit Xottnem

Wahre Lokale (59): das im Roh- und Nutzzustand belassene „Hirscheneck“ in Basel

Es ist mehr als eine Beiz oder ein Knellen, wie derartige Lokale auf Schweizerdeutsch heißen

Seit ich als junger Mensch ganze Abende und manchmal auch Nächte in Etablissements mit Namen wie „Affenkasten“, „Filmstüberl“, „Crazy Alm“ oder „Black Out“ verbracht habe, bin ich kein großartiger Kneipengänger mehr. Als gemäßigter Soziopath hasse ich überdies das Geschiebe der Menschenfleischmassen in den vollgeklatschten Treffpunkten irgendwelcher Szenen, Gemeinschaften, Schichten oder Klassen. Und als verantwortungsbewusster Trinker nattere ich meinen Roten lieber zu Hause. Erstens, weil ich mir derart einen besseren Tropfen leisten kann. Zweitens gebe ich im Schweiße meiner Besäufnisse der heranwachsenden Jugend oder anderen leicht beeinflussbaren Schichten kein schlechtes Beispiel ab. Nichts wirkt in meinem Alter peinlicher als künstliche Euphorie oder zähneknirschende Tristesse, verursacht durch Trunkenheit. Aber natürlich treibt es auch den von den Eitelkeiten der Welt zurückgezogen lebenden Schriftsteller manchmal hinaus in die tobende Metropole Basel.

Da ist die jüngste Tochter, die in den Musik- und Rhythmikunterricht gebracht werden muss. Es gilt, eine Dreiviertelstunde an einem ruhigen, regnerischen Nachmittag sinnvoll zu überbrücken. Die Musikschule liegt glücklicherweise nicht allzu weit von einem gastronomischen, wenn nicht gar gastrosophischen Unternehmen mit dem Namen „Hirscheneck“. Dort ist es zu jener Stunde schön ruhig und nicht verraucht. Das Interieur ist, wie man so schön sagt, rustikal, und diverse Plakate mit kühner Grafik verdecken möglicherweise Flecken an der Wand. Das alte, abgegriffene Holz in den mannigfaltigsten Brauntönen wirkt sehr beruhigend. Die Dame mit dem Kurzhaarschnitt trinkt wie immer ihr Bier an der Theke. Daneben labt sich ein älterer Herr aus dem Quartier an seiner 0,3-Liter-Bier-Stange. Es gibt erfreulicherweise einen neuen Flipperkasten, der „Star Wars“ heißt, und auch für bewegungsbehinderte Nullen einigermaßen zu spielen ist. Im Nebenraum sitzt friedlich der Punktisch neben dem Sportlertisch. Und der einzige Hund, der herumstreunt, ist so klein, dass man ihn fast gar nicht wahrnimmt.

Will man seinen Durst alkoholfrei löschen, dann steht eine bauchige Glasflasche voll Most auf der Theke. Aaah, Apfel und Birne ergänzen sich dort in schönster Fruchtsäure! Die Servierkraft ist heute auch allerbester Laune und summt den Marlene-Dietrich-Verschnitt mit, der dezent aus den Raumlautsprechern quäkt. Es ist wirklich nett hier. Die Zeit saust draußen an den Fenstern vorbei, also verweile doch, es ist so schön . . . Nein, der Musikunterricht der Jüngsten geht eben zu Ende, und der Aufbruch in die harte Kälte der Stadt lässt sich nicht länger hinausschieben.

Nun gut, ich gehe nicht nur zufällig oder zum blanken Zeitvertreib in das Restaurant „Hirscheneck“. Manchmal muss ich meine Schritte ganz direkt dorthin lenken. Denn es gibt unter der Beiz auch noch einen Konzertkeller, in den es mich immer wieder verschlägt, wenn ich richtig laute Musik hören muss – zum Beispiel, nachdem ich das neueste Buch eines hiesigen Jurasüdfuß-Literaten zwecks Rezension bis zum schrecklichen Ende lesen musste. Die Musik in diesem Keller ist laut, nur keine Angst, die räumt wieder durch! L7, The Offspring, D.O.A., Nikki Sudden, The Saints, Cosolidated, Alboth!, alles schon gesehen und gehört in diesem Raum, der raffinierterweise so klein ist, dass er immer bumsvoll wirkt. Hier finden traditionell auch Discos statt oder der berühmte Tuntenball am ersten Weihnachtsfeiertag. Im Restaurant oben kann am Sonntagabend ein so genanntes themenbezogenes Essen eingenommen werden. Das schmeckt besser, als es klingt. Chuchichäschtli mit Xottnem oder Röschtigrabe à la Kuschpäng werden beispielsweise an Schweizer Heimatabenden serviert, und immer wieder mal gibt es Exotika.

Das „Hirscheneck“ ist nicht nur eine Beiz oder ein Knellen, wie derartige in ihrem Roh- und Nutzzustand belassene Etablissements auf Schweizerdeutsch heißen, sondern diese Gastwirtschaft ist irgendwie das Pièce de Resistance in dieser ganzen abgefackelten, schnell wechselnden Kneipenszene in Basel. Es ist ein seit Jahrzehnten kollektiv geführter Betrieb, es gibt ein Kulturprogramm with attitude, und werkeln tun hier grundsätzlich nur Heldinnen und Helden der Arbeit: Alle zwei Wochen sitzen 16 Leute zuammen, um gemeinsam die Arbeit zu besprechen. Für alle Entscheidungen gilt grundsätzlich das Konsensprinzip . . . Wir wollen nicht bloß Bier und Knoblauchbrot verkaufen, wir wollen mehr sein! Was wir wollen, ist die Welt zu verändern. So steht es auf der Homepage des „Hirscheneck“. Wunderbar, dass es so etwas noch gibt.

WOLFGANG BORTLIK