Die Erosion des Realen

Grenzerfahrung Nr. I

Ich hatte nicht vor, mich in Gefahr zu begeben. Weiß Gott nicht. Sonst wäre ich nicht nach Usedom gefahren, auf eine zivilisierte Halbinsel in der Ostsee, dem kleinsten der Weltenmeere, einem Nebenmeer, fast einer Pfütze ohne nennenswerte Gezeiten und mit spärlicher Flora und Fauna.

Allenfalls Quallen können hier noch den Menschen erschrecken. Oder ein paar Glatzen. Doch um die kümmert sich die Bäderpolizei. Hier beginnen Butterfahrten, aber keine Abenteuer. Beunruhigend war höchstens das Alter meines notdürftig zum Wohnmobil umgebauten Kleinbusses, um dessentwillen mir schon Autoversicherungen ihren Beistand gekündigt hatten. Ich aber fuhr, Sonnenblumen im Herzen und Tau auf den Lippen, von einem Badeort zum nächsten und steuerte erst in der Dämmerung den Schlafplatz gleich hinter den Dünen an. Mondscheintarif zwischen Sonnenuntergang und Hahnenschrei, wenn ich morgens nur rechtzeitig erwachte und leise vom Parkplatz rollte.

Die Hitze des Tages aber hatte nicht nur Teerstraßen zerschmolzen und Hintern verbrannt, sondern auch den schweren, zuverlässigen pommerschen Boden in Treibsand verwandelt. Der Parkplatz war Wüste. Bei Tag gesehen. Wäre ich früher gekommen, hätte ich die Gefahr erkannt. So aber, nachtblind und müde, setzte ich meine Aussicht auf süße Träume mitten in heimtückischen Zuckersand. Der Wagen schlingerte wie ein Schiff auf kabbeliger See, und warf schließlich Anker. Wütend verbiss sich das linke Hinterrad im Grund, begrub Decken, Handtücher, Schlafsack, alles, was ich zur Stabilisierung auftreiben konnte. Ich wühlte mit bloßen Händen im feindseligen Sand. Wo verdammt waren Schaufel und Taschenlampe? Hilfe! Keiner sah meine Lage, niemand hörte den Ruf, die Schläfer ringsum hielten Sicherheitsabstand. Mein flehendes Hupen löschte in den Caravans das letzte Licht. Mondlichtversiegelte Schlachtschiffe im sicheren Hafen.

Nur wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Ich war gestrandet. Einsam auf Usedom. Toteninsel. Nicht so schlimm für jemand, der sowieso lieber allein ist, kämpfte Vernunft gegen Panik, doch schon heulte ich mit dem Wind, der die wilden Schatten der Kiefern auf mich zutrieb. Als schließlich die Stoßstange im Krater versank, nahm ich Abschied vom Leben. Aus und vorbei. Nie wieder würde es Tag werden. In der Erosion des Realen wurde ich Strandgut. Gleich würde das Meer in schwarzen Wellen über mich stürzen, Windflüchter würden mich niedertrampeln.

Sonnenblumen verdorrten in meinem Herzen, schon netzte meine Lippen die salzige Gischt. Da begann es zu regnen. Zu den Nachtschattenängsten gesellte sich wieder realer Lebenssinn und mit der Ergebenheit einer zum Tode Verurteilten kroch ich in den Wagen. Kopfüber in die linke Ecke der Koje gerollt und zitternd vor Kälte, die wärmenden Decken hatte der Drachen gefressen, träumte ich vom Retter, der mir mit einer Herde starker Rösser endlich den Karren aus dem Dreck ziehen hilft. Mir, einer Frau, die so gern allein durch die Welt zieht! Schon hörte ich das Donnern der Hufe. Wachte auf so gegen halb fünf in der Früh.

Mein Prinz kam im sonnenblumengelben, knatternden Trabbi und sammelte Müllsäcke ein, dann zog er an Land eine Schiffbrüchige aus dem Urmeer archaischer Ängste. Angesichts der Umstände erließ er mir auch die Parkplatzgebühr. Ich aber fahre seitdem nie mehr in der Dunkelheit auf unbekannte Parkplätze. HANNE BAHRA