„40 Grad minus sind kein Problem“

Nicolas Vanier ist in 99 Tagen mit seinen Schlittenhunden quer durch Kanada gefahren. Vom Pazifik zum Atlantik. Durch eisige Kälte über die Rocky Mountains. Aber gefehlt haben dem Liebhaber des hohen Nordens nur Muße und Schlaf

Interview MARTIN HAGER

Geboren im Senegal, wurde der Franzose Nicolas Vanier doch kein Liebhaber tropischer Hitze. Kälte muss es sein, ab minus 30 Grad wird es angenehm. Im Winter 1998/99 will er es wissen. In hundert Tagen versucht er Kanada zu durchqueren, vom Pazifik zum Atlantik, 8.600 Kilometer mit dem Hundeschlitten, über die Rocky Moutains und dann auf eisigen Ebenen bis zur Hudson Bay. Ziel: Quebec. Er hat es geschafft, doch wiederholen möchte er die Erfahrung nicht. Sein Buch über diese Expedition wurde allein in Frankreich über 150.000-mal verkauft. Ein Gespräch über Sinn und Zweck extremer Übungen.

taz: Was bedeutet es denn für jemand, der im Senegal geboren wurde, 100 Tage bei Temperaturen von bis zu minus 60 Grad zu verbringen?

Nicolas Vanier: Im Senegal war ich nur 5 Tage, das hat also nicht so eine große Bedeutung in meinem Leben gespielt. Aber seit meinem 18. Lebensjahr verbrachte ich mein ganzes Leben im Norden, 100 Tage sind für mich also nicht besonders lang. Ich war ein Jahr in Sibirien unterwegs und den ganzen Winter im hohen Norden.

Sind minus 60 Grad nicht unerträglich, zumindest für das ungeschützte Gesicht?

Das Leben bei dieser Kälte ist längst nicht so schwierig, wie die Leute sich das vorstellen. Wenn es so kalt ist, ist es sehr trocken. Und normalerweise weht dann auch kein Wind. Wenn man die ganze Zeit draußen ist – ich habe ja auch drausßen geschlafen –, zieht man sich sehr ordentlich an. Die Leute reden immer über die Kälte, aber für mich ist das ganz leicht. Natürlich ist minus 60 Grad sehr kalt, aber wenn es auf 30 bis 40 Grad minus hochgeht, ist es überhaupt kein Problem mehr. Viel besser als minus 20, das ist sehr warm. Man wird nass, und dann wird einem wirklich kalt.

Was waren denn die echten Probleme?

Schlaflosigkeit und Stress. Ich stand ja unter enormem Zeitdruck, um rechtzeitig in Quebec anzukommen. 3 bis 4 Stunden Schlaf pro Nacht. Nach 20 bis 30 Tagen wurde das extrem hart. Ich kam durch wunderbare Landschaften, lernte sehr interessante Menschen kennen – aber ich hatte nichts davon, weil ich einfach zu müde war.

Würden Sie so etwas denn wieder tun?

Nein, nie. Ich bin mein ganzes Leben durch solche Gegenden gereist, aber ich nehme mir immer Zeit. Bei diesem Trip war das anders. Ich bin froh, dass wir es gemacht haben, aber so rasen will ich nie wieder.

Sie selbst bewegen sich traditionell. Um die Distanz in so kurzer Zeit zu schaffen, haben Sie aber Schneemobile die Piste spuren lassen. Ist das nicht ein Paradox?

Schneemobile sind heutzutage das normale Fortbewegungsmittel im Norden, keiner nimmt mehr den Hundeschlitten. Die Leute schlafen ja auch nicht mehr im Iglu. In Deutschland fragt auch keiner, ob die Menschen nicht statt ins Autos wieder aufs Pferd steigen wollen. Das ist jetzt unsere Welt. Ich selbst würde nicht mit dem Schneemobil durch Kanada fahren. Ich mag den Lärm nicht.

Wenn diese Art von Stress und Strapaze Ihnen überhaupt nicht entspricht, warum haben Sie die Fahrt denn unternommen, mit all dem technischen Aufwand?

Ich hatte die Idee, dass meine Hunde etwas ganz Spektakuläres schaffen würden. Dieses Team ist einzigartig, extrem schnell. Ich sagte mir, mit diesen Hunden schaffe ich es vom Pazifik zum Atlantik in einem Winter. Es war interessant für mich, an meine äußerste Grenze zu gehen.

Auf Ihrer Fahrt treffen Sie auf einen Trapper, der schon einmal einen Menschen umgebracht hat. Sie sagen ihm, Sie könnten das verstehen, denn wenn jemand Ihrer Tochter etwas zuleide täte, würden Sie ihn auch umbringen. Andererseits gehen Sie bei Ihren Reisen unter extremen klimatischen Bedigungen die Gefahr ein, umzukommen. Damit riskieren Sie doch Ihrerseits, dem Kind sehr wehzutun.

Ich mache solche Fahrten nun schon seit zwanzig Jahren und hatte nie große Probleme. Die zwei, drei Male, die ich dem Tod nahe war, waren in Frankreich – auf der Straße, in meinem Auto. Ich kenne das Eis sehr gut. Ich empfinde diese Gegenden nicht als feindlich, die Natur ist dort eben so.

 Als ich mit meiner kleinen Tochter ein Jahr lang in Alaska unterwegs war, haben alle gesagt: „Oh, das ist doch sehr gefährlich!“ Das Mädchen ins Auto zu setzen und auf die Straße zu fahren ist aber viel gefährlicher, bei all den Wahnsinnigen in ihren Autos. Schnee und Natur sind mir lieber als eine Stadt.

Einen Survivalisten würden Sie sich aber nicht nennen?

Nein, ich überlebe ja nicht im Norden, das Leben ist dort so, das ist alles.

Eine aufwendige Expedition wie die Ihre lebt von der Aufmerksamkeit der Medien. Und Sie haben unterwegs sogar noch Interviews gegeben, als Sie völlig erschöpft waren. Die Beachtung durch die Medien war ja auch groß, wie Sie schreiben – bis zur Kosovokrise, als die Journalisten plötzlich verschwanden. Wirft das nicht ein ziemlich schräges Licht auf die öffentliche Seite ihrer Unternehmung?

Ehrlich gesagt habe ich ein großes Problem mit Sponsoren und Medien. Aber wenn ich meine Träume verwirklichen will, brauche ich sie. Daher bin ich wirklich sehr froh, dass mein Buch über die Reise ein echter Bestseller war in Frankreich. Das erste Mal in meinem Leben kann ich diesen Winter eine Fahrt unternehmen ohne Sponsor, ohne Geld mitzunehmen, ohne alles. Ich werde einfach meine Hunde nehmen und niemand je erzählen, wo ich war, was ich getan habe.

Nicolas Vanier: „Die weiße Odyssee“. Malik Verlag, München 2000, 318 Seiten, 39,80 DMDas Buch gibt es bei unserem Wettbewerb achtmal zu gewinnen; siehe „Preise“ auf der gegenüber liegenden Seite.