Im freien Fall

Grenzerfahrung Nr. III

Wenn du es eilig hast, rät ein japanisches Sprichwort, mache einen Umweg. Es kam mir nur zu spät zu Ohren. Die tückische Felsplatte hätte sich ohne weiteres umgehen lassen.

Zusammen mit dem Fotografen Miguel Fairbanks war ich den sechsten Tag auf dem West Coast Trail unterwegs, einem herrlichen Wanderweg an der kanadischen Pazifikküste, der entlang der schmalen Naht zwischen Ozean und Urwald verläuft. Es war eine anstrengende, aber nicht übermäßig schwierige Tour. Nur die Rucksäcke, zum Bersten gefüllt mit Ausrüstung und Proviant, machten uns zu schaffen. Das Südende dieses Weges ist nur bei maximaler Ebbe passierbar, sonst muss man einen Bogen durch den Wald schlagen. Links ragen rostrote Sandsteinklippen empor wie die Mauern einer Zitadelle, von rechts brandet der Pazifik heran, dazwischen glänzt ein blankes Schild aus Fels. Das Meer hat bis zu zehn Meter tiefe Gezeitengräben in diese Rampe hineingefräst und riesige Treibholzstämme darin verkeilt. Wer den Zeitpunkt des Niedrigwassers genau trifft, kann sie unten am Spülsaum umgehen, wir aber gerieten etwas in Verzug und mussten gelegentlich oben herum.

Es war ein strahlender Morgen. Wir spürten schon den Sog des nahen Ziels der Wanderung. Die nach den Füßen züngelnde Flut machte uns zusätzlich Beine. Oben kamen wir an eine kleine Kuppe, die seitlich in einen dieser Gräben abfiel. Dahinter ging es wieder eben weiter, es handelte sich lediglich um drei, vier Schritte. Ich kam aber über den zweiten nie hinaus.

Denn ich glitt aus, rutschte ab und fiel. Es ging alles ganz schnell. Es. Ging. Alles. Ganz. Langsam. Ich stürzte nicht, ich schwebte ab. Es heißt, dass das Leben in solchen Momenten wie ein Film vor dem inneren Auge vorüberzieht. Ich sah jedoch einen anderen Streifen. Er hieß „Der Stein“. Eine experimentelle Studie, die in Zeitlupe und mit übernatürlicher Schärfe jeden Zoll dieses Felsens erfasste, von der schorfigen Kruste bis zu den Grashalmen in den Ritzen.

Während ich mitsamt zwanzig Kilo Ballast unterwegs nach unten war, schoss ein Schwall aus Angst, Scham und Adrenalin in mir hoch, als wollten sie dem drohenden Aufprall entfliehen. Der Schließmuskel versagte den Dienst, das automatische Notfallprogramm schaltete sich ein: Alarmstufe eins! Alle Energie auf die Schilde! Sensorleistung auf Maximum!

Die Kuppe kann nicht höher als zwei Meter gewesen sein. Sie ruhte auf einem weiteren Block, der etwas vorstand. Mit den Händen landete ich passgenau auf diesem Sims und stemmte mich gegen die Schwerkraft. Mit einem Ruck war der Film zu Ende. Die Füße baumelten über dem Graben, ich hing wie an einem Balkon im zweiten Stock. Dabei fühlte ich mich sensationell stark und sicher. Selbst die Bürde des Rucksacks war eine Wohltat, sie bewies, dass ich nicht mehr fiel. Ich hievte das rechte Knie auf den Sims und wuchtete mich hoch. Oben streckte Miguel mir seinen Wanderstock entgegen – die Welt hatte mich wieder.

Ein gläubiger Mensch würde in einer solchen Schrecksekunde vielleicht ein Stoßgebet zum Himmel senden. Ein Philosoph fände den berühmten Satz bestätigt: Die Welt ist alles, was der Fall ist. Meine beinah letzten Worte dagegen wären nicht der Rede wert gewesen: „Oh – shit!“

STEFAN SCHOMANN