Es war nur ein Tag im Oktober

Edna Rodrig ist Vizebürgermeisterin von Nazareth Illit. Früher ging sie in Nazareth Humus essen. Heute nicht mehr. „Ich fühle mich verraten“, sagt sie

aus Nazareth ANTJE BAUER

Im Zentrum für Kinderpädagogik legt die Leiterin Nabila Espanioli eine Plastiktüte auf den Tisch. Sie ist zur Hälfte mit Patronenhülsen gefüllt. Es gibt eine reiche Auswahl: große, kleine, dicke, dünne, Stahlpatronen, Hartgummigeschosse und Stahlhülsen mit einer hauchdünnen Gummiummantelung. „Seit Oktober besitzt hier fast jeder so eine Sammlung von Patronen, die er auf der Straße aufgelesen hat“, sagt sie.

Am 2. Oktober vergangenen Jahres war in Nazareth demonstriert worden. Aus Protest gegen das Vorgehen der israelischen Polizei, die innerhalb von zwei Tagen der Intifada bereits sieben Palästinenser erschossen hatte. Die Demonstration führte zu Ausschreitungen: Palästinensische Jugendliche setzten Läden in Brand, griffen Banken an, warfen Scheiben ein. Bei Auseinandersetzungen mit der israelischen Polizei wurde ein Demonstrant erschossen.

Knapp eine Woche später, am 8. Oktober, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, taten sich an der Synagoge von Nazareth Illit einige hundert Juden zusammen und fielen in einen Stadtteil von Altnazareth ein.

Nazareth Illit (Obernazareth) liegt auf einem Hügel, wirklich nur einen Steinwurf von der alten Stadt entfernt. Seine 50.000 Einwohner sind zum Großteil Juden. Angesichts der bedrohlichen Situation sammelten sich die Palästinenser von Nazareth, um den randalierenden Juden den Weg zu versperren. Von der Moschee aus rief der Muezzin zum Widerstand auf. Es kam zu Straßenschlachten zwischen Juden und Palästinensern, die israelische Polizei – und möglicherweise auch ein Teil der jüdischen Randalierer – schoss auf Palästinenser. Der arabische Bürgermeister von Nazareth telefonierte erfolglos mit Polizeiminister Schlomo Ben Ami, um die Polizisten zurückzuhalten. Zwei Demonstranten aus Nazareth wurden getötet, mehrere Dutzend verletzt.

Edna Rodrig ist noch heute empört, wenn sie an die Ereignisse zurückdenkt. Empört über die Araber. „Niemand wollte Nazareth erobern. Das ist Unsinn. Sie wollen jetzt einen Grund finden, warum sie aggressiv sind und beginnen, zu schießen und Steine auf die Polizisten zu werfen.“ Vielleicht, räumt sie ein, hätten ein paar Juden in aller Ruhe die Araber aufgefordert, von der Gewalt Abstand zu nehmen. Aber nach Nazareth hineinmarschiert seien sie keinesfalls. „Die Gewalt ging nur von einer Seite aus. Leider sind dabei zwei Araber umgekommen.“

Edna Rodrig ist Vizebürgermeisterin von Nazareth Illit und gehört der Arbeitspartei an, wie Schlomo Ben Ami, der Polizeiminister. Früher fuhr sie nach Nazareth, um dort ihr Auto reparieren zu lassen oder Humus essen zu gehen. Seit Oktober hat sie keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt. „Ich fühle mich verraten“, sagt sie. „Man sitzt mit ihnen zusammen, sie kommen in unsere Parks und Einkaufszentren, und plötzlich wenden sie Gewalt an.“

Verräter? Die Juden

Verraten fühlen sich auch die Araber von Nazareth. Vor allem von Ministerpräsident Ehud Barak. „In welchem demokratischen Staat wird auf Demonstranten geschossen? Neu ist doch nicht, dass demonstriert wird. Neu ist die israelische Reaktion“, empört sich Nabila Espanioli. Abu Anas, ein Islamist im weißen Gewand und weißen Käppchen, der im Bazar von Nazareth Gemüse verkauft, klagt: „Wir haben alle für ihn gestimmt, und er hat uns getötet“.

An die Holztür seines Lädchens hat er ein Plakat angeschlagen, auf dem die Al-Aksa-Moschee abgebildet ist, verbunden mit einem Spendenaufruf für die Opfer der Intifada. Abu Anas nennt die Palästinenser in den autonomen Gebieten seine „Brüder“: Sie seien vom selben Blut. Deshalb müssten die Araber in Israel praktische Solidarität mit der Intifada üben. Abu Anas wird bei den Premierministerwahlen am morgigen Dienstag keinen Kandidaten wählen. Einer sei schlimmer als der andere.

Der Markt, auf dem Abu Anas seinen Stand hat, sieht traurig aus: Die Schritte vereinzelter Kunden verlieren sich in den Gassen, in leeren Souvenirläden lassen Verkäufer zum Zeitvertreib die Finger knacken. Einsam sitzt der Empfangschef der Casa Nova an der Rezeption vor langen Reihen von Schlüsselbunden. „Solange die Situation nicht sicher ist, wird alles storniert. Keine Ahnung, wann wir wieder aufmachen können“, sagt er. In dem Franziskaner-Hospiz wimmelt es normalerweise von italienischen Pilgern. Seit den „Ereignissen“, wie die Auseinandersetzungen schamhaft genannt werden, bleiben die Touristen aus. Ausgerechnet jetzt. Jahrelang hatte man sich auf 2000 und die Wende zum Jahr 2001 vorbereitet: Die Hauptstraße umgepflügt, sodass die Stadt im Stau erstickte, den Bazar renoviert, Läden modernisiert – und nun das.

Nicht nur die Pilger, auch die Besucher aus der Region bleiben aus: Die Juden, die sonst gerne nach Nazareth zum Einkaufen fuhren, kommen aus Angst und Wut nicht mehr. Die Araber aus den autonomen Gebieten fehlen ebenfalls, weil die Gebiete die meiste Zeit abgeriegelt sind. „Die Lage ist sehr schlecht“, knurrt ein Juwelier, der zur Unzeit Inventur macht.

Verräter? Die Christen

Ein alter Souvenirhändler sagt entschuldigend: „Es war ja nur ein Tag im Oktober. Seither ist es ruhig. Ich weiß nicht, warum die Touristen nicht herkommen.“ Sehr gesprächig sind sie nicht, die Ladenbesitzer von Nazareth. Ein Grund dafür mag sein, dass der Ausbruch der Gewalt möglicherweise auch etwas zum Ausdruck gebracht hat, über das niemand so recht sprechen möchte: Angeblich wurden nur Läden von christlichen Palästinensern in Brand gesteckt. Die Christen in Nazareth sind die sozial und ökonomisch besser Gestellten. Der Tourismus und das Geschäft mit den Pilgern liegt in ihrer Hand. Allgemein ist das Verhältnis zwischen christlichen Palästinenern und Juden in Israel besser als das zwischen Muslimen und Juden. Doch fast überall geraten die Christen in die Minderheit. Und die Muslime, deren Anteil zunimmt, verlangen einen größeren Einfluss in der Gesellschaft.

Das ist auch in Nazareth so. Seit Jahren schwelt dort ein Konflikt, weil militante Islamisten neben der Verkündigungskirche, dem religiösen Mittelpunkt von Nazareth, eine Moschee bauen wollen, deren Minarett höher sein soll als der Kirchturm. Eine bewusste Provokation.

Dass der Vandalismus in Nazareth nur christliche Geschäfte getroffen hat und die Solidarität mit der Intifada ein willkommener Anlass war, um innerarabische Rechnungen zu begleichen, will niemand bestätigen. Doch ein christlicher Großunternehmer, vor zwei Jahren noch zu einem ausführlichen Gespräch mit der taz bereit, fand diesmal keine zwei Minuten Zeit. Hingegen sagt Omar az-Zein, Eigentümer eines Stoffgeschäfts, unverblümt: „Die Christen hier im Staat stehen alle auf Seiten Israels.“ Soll heißen: Sie sind Verräter an der palästinensischen Sache.

Eine Intifada sei das nicht gewesen, was in Nazareth geschehen ist, sagt Nabila Espanioli vom Zentrum für Kinderpädagogik. Jedem in der Stadt sei klar, dass der Status der Palästinenser in Israel ein anderer sei als der in den autonomen Gebieten. Es ging darum, die Palästinenser dort zu unterstützen. Doch außerdem brach bei den israelischen Palästinensern die eigene Wut durch: „Wir hier klagen unsere Bürgerrechte ein“, sagt Walid, der aus einem Dorf nach Nazareth gekommen ist, um seine Kupfergravuren zu verkaufen. „Israel will uns nicht haben. Israel sieht in uns eine Gefahr.“ Es ist das Gespenst der Fünften Kolonne, das hier wieder auftaucht: Israels Araber als Agenten der Palästinenser in den autonomen Gebieten.

Verräter? Die Araber

Schon sind Gerüchte in Umlauf, die Ausschreitungen seien von Israelis provoziert worden, um Nazareth im Zuge von Gebietsaustausch an die autonomen Gebiete abzutreten. Auf beiden Seiten ist das alte Misstrauen wieder da. Man schweigt sich an.

Eine staatliche Untersuchungskommission soll die Vorfälle untersuchen. In den Tagen nach den Auseinandersetzungen sei nachts ein Auto vor ihrem Haus in Nazareth Illit entlanggefahren und die Darinsitzenden hätten gebrüllt: „Araber raus!“, sagt Nabila Espanioli. Aber sie denkt gar nicht daran wegzuziehen. „Das ist meine Heimat und meine Stadt, wem sollte ich die wohl überlassen?“ Auch Edna Rodrig ist fest entschlossen, die Stellung zu halten. So langsam wird sich die Lage wohl normalisieren. Bis zum nächsten Ausbruch. Apartheid kann nicht ewig währen.