Schmetterlinge im System

Datinglines und Fernbeziehungen: Berliner Studien zur Mediennutzung im Alltag

Der Cyborg ist ein kybernetischer Organismus, ein Hybrid zwischen Mensch und Maschine. Seit er als postmodern-mythische Zukunftsvision in die Welt gesetzt wurde, beflügelt er die Fantasie vieler Studenten zu gender- und medienkritischen Hauptseminararbeiten.

Die Realität sieht allerdings zur Zeit noch wesentlich unspektakulärer aus. Trotz E-Mail, SMS und „Big Brother“-TV sucht man vergebens nach der Mensch-Maschine-Symbiose. Weil die elektronischen Kommunikationsmedien aber dennoch unseren Alltag durchdringen, haben einige junge Ethnologen jetzt die Mediennutzung im Alltag untersucht, und die „technogene Nähe“ erforscht. So lautet der Titel eines Sammelbandes mit „ethnographischen Untersuchungen zur Mediennutzung im Alltag“. Er ist das Ergebnis eines anderthalbjährigen Studienprojekts am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität. Die Jungforscher halten sich an die kleinen Details des medialen Alltags – und gehen bisher unbeantworteten Fragen nach. Wie funktioniert eigentlich eine 0190-„Erfahrene Frauen suchen diskrete Kontakte! Noch heute Nacht!“-Datingline? Wozu brauchen Bauarbeiter ein Handy? Und wie kommunizieren Paare in Fernbeziehungen?

Über den Einzeluntersuchungen schwebt die Leitfrage: „Wie wird im Alltag (nach-)moderner Gesellschaften Präsenz produziert?“ Durch die Abwesenheit des Körpers bei technogener Kommunikation ist Anwesenheit eben nicht mehr unmittelbar, sondern wird künstlich hergestellt: durch E-Mail, Briefe, Telefon etc. Nähe ist kein Zustand mehr, sondern wird unter Aneignung von Technik dynamisch produziert.

Die Ergebnisse, die Ethnologen von ihrer Expedition in die Mediengesellschaft mitbringen, sind sehr konkret. Geographisch getrennte Paare halten ihre Verbindung durch Medienwechsel, durch den Mix von verschiedenen Medien, wobei – nach wie vor – die große Bedeutung des Briefs in Anbetracht all der elektronischen Möglichkeiten erstaunlich ist. Der Bauarbeiter nutzt sein Handy, um Material nachzuordern bzw. um auf der unübersichtlichen Baustelle direkt mit dem Chef zu reden. Allerdings nur, wenn der Chef nicht gerade seinen Arbeitern Handys verbietet, damit sie ohne Unterbrechung arbeiten. Und die Datingline schließlich entpuppt sich als Unterhaltungsraum im doppelten Sinn, trotz der Erwartungskonflikte der Benutzer: Frauen telefonieren kostenlos, Männer zahlen 50 Pfennig die Minute. Die Anzeigen für Männer versprechen ein Big Sexyland mit Live-Sex, während Frauen „Schmetterlinge im Bauch“ erhoffen. Aber alle landen im selben System.

Das Themenspektrum der Untersuchungen reicht weit, von der Aneignung des Computers als Arbeitsmittel durch hoch qualifizierte MigrantInnen, von Macht und Raum im Talkradio über die Herstellung von Distanz zu Kollegen im Büro per Intranet bis hin zur Globalität eines Neuköllner Callshops.

Cyborgkörper gibt es nicht, und sind in nächster Zeit auch nicht zu erwarten. Eher das Gegenteil: Durch technisch erzeugte Nähe entsteht ein Verlust an Körperlichkeit, der zwei Tendenzen verursacht: Zum einen eine größere Festschreibung der Persönlichkeit, da das Erlebte ständig in Worte, gesprochen oder geschrieben, gefasst werden muss. Zum anderen zählt in Beziehungen nicht mehr der geteilte Raum, sondern eher die medial geteilte Zeit. Statt dem „Wann“ und „Wo“ wird man dann nur noch das „Wie lange“ verhandeln.

DANIEL BOESE

Stefan Beck (Hg.): „Technogene Nähe. Ethnographische Studien zur Mediennutzung im Alltag“. Lit Verlag, Münster 2000, 29,80 DM. Mehr Infos unter www.technogene-naehe.de