„Hier wächst nicht mal Gras“

Georghe Tamas’ Hof liegt nahe dem gebrochenen Staudamm von Baia Mare. Die Bewohner der Region werden weder informiert noch entschädigt

aus Baia Mare KENO VERSECK

„Keiner hat hier im letzten Jahr gesät. Die von der Ökologie haben ja Bodenproben genommen. Was da herausgekommen ist, weiß ich aber nicht. Ich habe sie nur gefragt: Wann können wir wohl wieder aussäen? Da haben sie gesagt: In zwanzig Jahren.“ Ana Ghisa, die alte Bäuerin, erzählt gelassen. Nur als sie von den zwanzig Jahren spricht, wird ihre Stimme brüchig. Nun schweigt sie. Sie ist 64 Jahre alt. 20 Jahre, das könnte sie noch erleben, denn sie ist kerngesund. Aber sie wird es wohl nicht mehr erleben, nicht hier, in Sasar.

Sasar heißt das Dorf, in dem Ana Ghisa wohnt, ein Dorf nahe der nordrumänischen Stadt Baia Mare. Anas Hof ist nur hundertfünfzig Meter von jenem Staubecken der australisch-rumänischen Goldfabrik „Aurul“ entfernt, aus dem heute vor einem Jahr nach einem Dammbruch 100.000 Kubikmeter Zyanidabwasser aus- und dann in die Theiß und die Donau liefen. Eine Umweltkatastrophe, in deren Folge die Flüsse auf einer Länge von hundert Kilometern verseucht wurden und tausende Tonnen Fisch verendeten. Die Böden sind heute mit 3.000 Milligramm Blei pro Kilo Erde verseucht – das ist das Dreißigfache des zulässigen Grenzwertes.

Ana Ghisa erzählt, wie der Alltag der Dorfbewohner heute aussieht. „Wenn wir nach Baia Mare auf den Markt fahren, um Lebensmittel zu verkaufen, dann sagen die Leute: Ihr kommt aus Sasar? Dann kaufen wir nichts von euch. Die Leute haben Angst.“ Sie schweigt einen Augenblick. „Wir haben uns dran gewöhnt. Nur im Sommer, wenn es schwül ist, haben wir alle so einen süßlichen Geschmack in der Kehle.“

Annas Nachbarn, die ihre Namen nicht nennen wollen, sind nicht so gelassen. Sie leben in ständiger Angst um ihre achtjährige Tochter. Wenn der Wind den bittersüßen Zyanidgeruch herüberträgt, hat sie Erstickungsanfälle, bekommt rote Flecken am Körper, hohes Fieber, ihre Arme und Beine schwellen an. Eine Allergie, haben die Ärzte dem Vater gesagt. Ob vom Zyanid, kann keiner mit Bestimmtheit sagen. Der Mann würde mit seiner Familie wegziehen aus Sasar, aber niemand kauft sein Haus, so dicht am Staubecken, das man von seinem Hof aus sehen kann.

Dort schütten Lastwagen noch immer neuen Sand auf die Dämme, die damals gebrochen sind. Ab und zu hört man Schüsse. Aber niemand jagt hier – die Schussgeräusche werden von einem Apparat erzeugt, um die Vögel vom Becken fern zu halten.

Auch ein paar Kilometer vom Staubecken entfernt, am Stadtrand von Baia Mare, arbeitet die Goldfabrik Aurul inzwischen wieder auf Hochtouren. Dort liegt ein riesiger Krater, gleich neben einer heruntergekommen Wohnsiedlung und einem Spielplatz.

Die Erde ist tief aufgerissen, eine Mondlandschaft. Mit Wasserwerfern brechen Arbeiter Erdstücke vom Grubenrand ab. Hier lagern Schlacken aus früherer Schwermetallproduktion. Sie enthalten noch zwei Gramm Gold pro Tonne. 0,0002 Prozent, die ausgereicht haben, um den Goldrausch zu entfesseln: Die Firma Aurul wäscht das Restgold noch immer mit Zyanid heraus.

Obwohl der australische Mutterkonzern Esmeralda Konkurs angemeldet hat, arbeitet die Tochterfirma Aurul längst wieder wie vor dem Unfall, berichtet Edit Pop, eine Mitarbeiterin der örtlichen Umweltschutzvereinigung Assoc: „Die Umweltagentur aus Baia Mare hat Aurul eine Genehmigung für den Probebetrieb erteilt. Doch von eingeschränkter Produktion kann keine Rede sein. Die Anlagen laufen sogar zeitweise mit maximaler Auslastung, damit die Firma sehen kann, ob sie den Bedingungen standhalten.“

In der Gegend von Baia Mare sind die Bewohner weder richtig informiert noch entschädigt worden. Im Dorf Bozinta zum Beispiel hat die Zyanidflut viele Brunnen vergiftet. Gheorghe Tamas, 28, erzählt: „Einen Monat nach dem Unfall sind die Herren von der Gesundheitsbehörde gekommen und haben gesagt, wir können das Wasser aus den Brunnen trinken, es ist in Ordnung. Aber eine schriftliche Bestätigung dafür haben sie nicht mitgebracht. Auch die Firma Aurul hat gesagt, gar kein Problem, wir kommen und reinigen die Brunnen. Gekommen sind sie nicht, jedenfalls nicht zu mir.“

Das Stück Land von Gheorghe Tamas liegt knapp einen Kilometer vom Staubecken entfernt. Hier floss die Zyanidflut entlang. Noch immer ist alles ringsum grau. Eine Entschädigung hat er nicht bekommen. „Sehen Sie“, sagt Gheorghe Tamas und weist mit der Hand über sein Feld, „hier ist nicht mal Gras gewachsen. Ich war bei der Gemeindepolizei und habe Anzeige erstattet. Die Polizei hat gesagt, sie leitet die Anzeige weiter an die Justiz. Seitdem hat uns niemand mehr irgendetwas mitgeteilt. Der Bürgermeister will sich mit Aurul einigen: Wir verzichten auf die Klagen, sie zahlen uns den Gasanschluss für das Dorf. Mal sehen, was draus wird.“

Bei der Firma Aurul will niemand reden. Keine Interviews, heißt es nach drei Gesprächsversuchen. Auch das Umweltamt hüllt sich in Schweigen. Istvan Ludescher, der Vizebürgermeister von Baia Mare, meint, dass die Umweltsituation in Baia Mare übertrieben schlimm dargestellt wird. „Ich glaube nicht, dass Baia Mare zurzeit eine besonders verschmutzte Stadt ist. Es werden Maßnahmen getroffen, um die Gefahren zu mindern oder auszuschalten.“

Doch die nordrumänische Stadt ist seit langem einer der schwarzen Flecken in Europa. Neben der australisch-rumänischen Goldfabrik gibt es weitere Bergwerksunternehmen, ein großes Schwefelsäure-Kombinat und eine Bleifabrik. Der Arzt Lajos Györffi, in der Stadt zuständig für Berufskrankheiten, zählt auf, worunter die Menschen in der Region leiden: „Die typischen Krankheiten hier sind Blei- und Arsenvergiftungen sowie chronische Bronchitis. Daneben gibt es auch Selen- und Manganvergiftungen.“

Im Stadtviertel Ferneziu steht die Bleifabrik Romplumb. Hier haben ausnahmslos alle Anwohner schwere Bleivergiftungen. Die Familie Oprea wohnt gleich neben der Bleifabrik, in einem verfallenen Wohnblock ohne Wasser und Heizung. Zamfir Oprea, 39, hat 17 Jahre lang in der Bleifabrik gearbeitet, bis er 1996 entlassen wurde. Zamfir Oprea ist ständig müde, gleichzeitig nervös, ihn plagen Kopfschmerzen, er kann sich nicht konzentrieren. Er, seine Frau und die größeren der sieben Kinder leben vom Kindergeld. Im Herbst sammeln sie Kastanien auf dem Hügel neben der Bleifabrik und verkaufen sie.

„Wir sind ja bald tot“, sagt Zamfir Oprea und weist auf sich und seine Frau. „Aber die Kinder werden es sehr schwer haben in dieser Welt. Sie haben keine Bildung, sie können nicht lernen, das Blei hat sie irre gemacht. Sie können sich einfach nichts merken. Hundert Mal sag ich ihnen, wie viel ist zwei und drei? Sie antworten: Eins.“ Er wendet sich an seinen achtjährigen Sohn:

„Wie viel ist zwei und vier, hmm? Zwei plus vier?“

„Fünf“, antwortet das Kind verschämt lächelnd.

„Fünf!“, ruft der Vater wütend aus. „Sie können es nicht! Er ist jetzt schon das zweite Jahr in der ersten Klasse.“

Zamfir Opreas Frau, Dorica, 35, erzählt, dass ihre Kinder oft Ausschlag bekommen. Sie zeigt auf Beulen an den Hälsen ihrer Kleinen: „Als wenn Perlen unter der Haut wären. Sehen Sie, hier?! Das kriegen sie im Frühjahr und im Herbst, und an den Beinen haben sie Eiterbeulen. Die Kinder sind alle krank und nervös. Ständig tut ihnen der Kopf weh, sie müssen sich übergeben.“

So wie Familie Oprea ergeht es tausenden Menschen in Baia Mare. Die Lebenserwartung in der Stadt liegt unter dem Landesdurchschnitt. Landwirtschaftliche Produkte aus dem Umland der Stadt bekommen keine Exportgenehmigung, weil sie zu sehr mit Giften belastet sind.

Die hohen Schadstoffkonzentrationen des Bodens dort, schätzt Umweltschützerin Edit Pop, werden noch Jahrzehnte andauern, selbst wenn alle Bergbau- und Industriebetriebe sofort stillgelegt würden. „Baia Mare ist mittlerweile als eine der verschmutztesten Städte Europas bekannt, und so ist es auch, leider. Es ist eine schöne Stadt in einer außergewöhnlichen Landschaft. Es könnte ein Urlaubsort sein, ein Ort für Sanatorien. Das war es ja auch mal, bevor die Industrialisierung begann. Jetzt ist Baia Mare eine zerstörte Stadt. Ganz Europa kennt uns.“