Wenn Sexualität statt der Befreiung bloß dem Machterhalt dient

■ Mehr als ein S/M-Streifen: Das Abaton-Kino zeigt heute in seiner Pasolini-Reihe „Saló oder Die 120 Tage von Sodom“

„Macht besitzt eine erotische Sprengkraft, erklärte der Philosoph Michel Foucault in den 70er-Jahren und fragte: „Wie kann es passieren, dass der Nazismus heute überall zum absoluten Bezugspunkt der Erotik geworden ist: in Frankreich, in Deutschland, in den Vereinigten Staaten, in der pornographischen Literatur überall auf der Welt? Alles, was die erotische Phantasie an Schund auswirft, steht jetzt im Zeichen des Nazismus.“

Comic-Zeichner wie Guy Pellard inszenierten die Rolling Stones bei einem satanistischen Abendmahl in Hakenkreuz-Uniformen, in den schwulen S/M-Clubs und unter den Hells Angels der amerikanischen Westküste gehörten die In-signien des nazistischen Terrors schon seit den 60ern zur Routine. Und auch das Kino gewann den Nazis auf einmal vor allem eins ab: eine scheinbar ungeheure, wenn auch nicht politisch motivierte Faszination.

Mit reißerischen Schockern wie Love Camp 7 oder Ilsa – She Wolf of the SS klinkten sich amerikanische Exploitation-Filmer erfolgreich in den Trend ein, Softpornos vor historischem KZ-Hintergrund zu inszenieren, aber niemand war darin so notorisch wie die Italiener. Nur sie schafften es nämlich, diese Darstellung sexualisierter Nazis irgendwo zwischen Mondo-, Kannibalen- und Zombie-Filmen gleich in den Rang eines Genres zu erheben. „Sadiconazista“ nannte man es dort. Und auch das Autoren-Kino mischte mit: Luchino Visconti, Bernardo Bertolucci, Liliana Cavani, Pier Paolo Pasolini – sie alle drehten in diesen Jahren Filme, die den Nazismus und perverse Sexualität kurzschlossen.

Neu war diese in den 70ern sich ausbreitende Verbindung jedoch keineswegs. Schon Adorno und Horkheimer hatten in jenem „dunklen Schriftsteller“ die für sie im Nationalsozialismus auf den Begriff kommende Dialektik der Aufklärung am Werke gesehen, in der eine um jede ethische Dimension beraubte Vernunft in ihr Gegenteil umschlägt: in Terror, Gewalt, Anarchie. „Wir Faschisten sind die einzig wirklichen Anarchisten natürlich erst dann, wenn die Macht im Staate unser ist“, heißt es in Pasolinis Saló – Die 120 Tage von Sodom an zentraler Stelle.

Als der Film auf dem Pariser Filmfestival 1975 uraufgeführt wurde, interessierte das allerdings niemanden mehr. Wenige Tage zuvor war der im subproletarischen Strichermilieu verkehrende Regisseur ermordet worden, die italienischen Behörden hatten den Film mit einer Totalzensur belegt, und das Feuilleton reagierte entrüstet, aber auch dankbar auf den Skandal. Pasolini hatte Marquis de Sades von mathematischem Ordnungswahn berstenden Roman adaptiert, indem er ihn in die faschistische Restrepublik Saló am Gardasee während der letzten Kriegstage verlegte. Ein apokalyptisches Setting, das Pasolini noch durch Anspielungen auf Dantes Inferno steigerte.

Vier „Herren“, bei Pasolini allesamt Vertreter der italienischen Oberschicht, ergehen sich darin in einem rituell vorgegeben Szenario der Ausschweifungen und Demütigungen: Acht Knaben und Mädchen werden ohne Unterlass, in sich steigernden Exzessen, vergewaltigt, verstümmelt, müssen ihre Exkremente essen, werden zum Verzehr von Rasierklingen gezwungen, und werden ermordet. Pasolini inszeniert all dies äußerst langatmig und so monoton – selbst ausgemachte Voyeuristen dürften kaum auf ihre Kosten kommen: Sexy sind diese Sadisten ganz sicher nicht mehr.

Roland Barthes warf dem Film seinerzeit vor, weder dem Faschismus noch de Sade gerecht zu werden. Ein Jahr vor Michel Foucaults Sexualität und Wahrheit erschienen, wirkt Saló heute wie eine Vorwegnahme seiner Kritik an der Idee der „sexuellen Revolution“, die der katholische Kommunist Pasolini als Traum vom Aufstand der Leiber jahrelang selbst propagiert hatte. Sexualität erscheint nicht mehr als die große Gegenspielerin der Macht, sondern als deren Teilhaberin bei der Konstruktion von Identität. Und genau diese Ernüchterung ist es vielleicht, die Salò 25 Jahre später, angesichts von Girls Camp, Daily Talk, Idioten oder Romance, dennoch so aktuell erscheinen lässt: als skandalöser Abgesang auf die Idee des Skandal selbst.

Tobias Nagl

 heute, 20 Uhr, Abaton (Einführung: Marcus Stiglegger)