Der Herr des Universums

Porträt des Schach-Weltmeisters Viswanathan Anand, der beim Spitzenturnier in Wijk aan Zee derzeit eher verhalten spielt, aber sein Heimatland Indien in einen wahren Schachrausch gestürzt hat

von ASHWIN RAMAN

Als Viswanathan Anand am Heiligen Abend in Teheran Schachweltmeister wurde, waren die Inder nicht mehr zu bremsen. Fremde gratulierten sich gegenseitig, als hätten sie selbst zu Anands Erfolg beigetragen. Jeder Rikschafahrer in seiner Heimatstadt Madras (jetzt Chennai) behauptete, Anand irgendwann befördert zu haben. Die Zeitungen brachten melodramatische Schlagzeilen wie: „Anand ist Viswanathan“. Übersetzt: „Anand ist der Herr des Universums“. Und warum auch nicht? Das Milliarden-Volk hat endlich mal einen echten Weltmeister. Anand ist der erste Asiat und neben dem Amerikaner Bobby Fischer der zweite Nichtrusse, der diesen Titel gewonnen hat. In diesen Tagen ist vielleicht erwähnenswert, dass er auch Vegetarier ist.

Sogar das Ruhrgebiet kann sich mit den Indern freuen. Anand spielt fast jedes Jahr in Dortmund und ist ein gern gesehener Gast. Er ist wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Erde, der Dortmund schön findet. So schön, dass er im Juni 1996 seine Flitterwochen dort verbrachte. Seine Heirat in Madras plante er so, dass er die Hochzeitsreise mit den Dortmunder Schachtagen verbinden konnte. Die Rosenpracht im Westfalenpark und die Läden haben es ihm angetan. „Wer hätte gedacht, dass eine Stadt im Industriegebiet so schön sein kann? Ja, ich bin ein Dortmunder.“

Madras, die Schachstadt

Vielleicht war er in seinem letzten Leben ein Dortmunder, aber in diesem ist er ein Vollblut- Madrasi (ein Oberbegriff für alle Menschen, die aus dem südlichen Teil Indiens stammen) Die Inder glauben, dass alle Madrasis mathematisch begabt sind, Milchkaffee trinken, viel Reis essen und körperliche Tätigkeiten scheuen. 15.000 registrierte Schachspieler gibt es in Madras. Anständig zu spielen, lernen sie in den dreizehn Schachschulen der Stadt. Sechzehn der fünfundzwanzig indischen internationalen Schachmeister sowie drei der fünf indischen Großmeister stammen aus Madras. Hinzu kommt dass die berühmte indische Softwareindustrie auch im Süden ansässig ist. Schach ist die einzige Sportart, in der man aktiv gegen einen Computer antreten und die Spiele der Großmeister nachspielen kann. Da es in Madras nur zwei Wetterlagen gibt, nämlich heiß und heißer, verbringen Menschen viel Zeit in ihren vier Wänden. Es wird viel gelesen, geschrieben und Schach gespielt. Bessere Bedingungen kann es für einen künftigen Weltmeister kaum geben.

Anand wurde als jüngstes von drei Kindern am 11. Dezember 1969 in Chennai geboren. Da der Vater als Bahnbeamter viel unterwegs war, musste die Mutter Sushila für die Erziehung der Kinder sorgen. Schon im Kindesalter bemerkte sie bei Viswanathan ein fotografisches Gedächtnis und brachte ihm im Alter von fünf Jahren die ersten Spielzüge bei. Sushila erinnert sich: „Schon mit zwei Jahren suchte er sich seine Lieblingsplatten aus Stapeln heraus, die ich immer für ihn spielen musste.“

Es war auch die Blütezeit der indisch-sowjetischen Freundschaft. 1972 wurde der „Mihail-Tal-Schachclub“ in Chennai gegründet. Das russische Konsulat lieferte die Schachbretter und Fachzeitschriften. Der einzige indische Internationale Meister, Manuel Aaron, fungierte als Trainer. 1975 tauchte der sechsjährige Anand in Begleitung seiner Schwester Anuradha bei Aaron auf. Anuradhas Aufgabe war, ihren Bruder auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades zum Tal-Club zu fahren. Aaron erinnert sich: „Anand war angenehm lästig. Dauernd unterbrach er meine Vorträge mit Fragen, die er sich dann selbst beantwortete. Als wir die Partien von Großmeistern nachspielten, meinte Anand, er habe bessere Züge.“ Ein Schachbrett wurde in der Mitte des Raumes aufgestellt, und es wurde ununterbrochen gespielt. Der Gewinner durfte weiterspielen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass Anand morgens anfing und bis in den späten Abend spielte. Zwangsweise wurde schnell gespielt. Heute noch wird Anand wegen seiner Schnelligkeit „Lightning Kid“ genannt.

Auf dem Heimweg radelten Bruder und Schwester immer an der Huntington Road, Hausnummer 2, vorbei. Hier starb 1920 das Mathematikgenie Srinivasa Ramanujan. 1887 geboren, war Ramanujan ein autodidaktisches mathematisches Wunderkind. 1913 schickte er an Godfrey Hardy, einen renommierten Mathematiker an der Cambridge University, einen Brief mit 120 selbst entwickelten Theorien. Hardy erkannte sofort, dass Ramanujan „die seltene Blüte eines exotischen Genies“ war und holte Ramanujan an das Trinity College, Cambridge. Aus gesundheitlichen Gründen kehrte er jedoch 1919 nach Indien zurück, wurde wie ein Held empfangen und starb dreiunddreißig Jahre jung in Madras. Anand bewundert den Mathematiker und kehrte in den Krisenzeiten seiner Laufbahn immer wieder an diesen Ort zurück, um Kräfte zu sammeln und zu reflektieren.

Das Jahr 2000 begann besonders schlecht für Anand. Beim Turnier in Linares konnte er nicht einziges Spiel gewinnen. Um Abstand zu bekommen, flog er nach Madras, zur Huntington Road. Zwei Monate blieb er dort mit seiner Frau Aruna und kehrte dann zu seinem zweiten Wohnsitz Collado Mediano, in der Nähe von Madrid, zurück. Mit seinen Trainern Elizar Ubilava und Pablo San Segundo arbeitete er bis zu sieben Stunden am Tag. Um seinen Körper zu stärken, fuhr Anand täglich zwei Stunden mit dem Rad, zur Entspannung lauschte er der Musik von U2 und Queen. Aruna kochte ihm starken Milchkaffee und Reispfannkuchen mit Kokosnusssauce. Und dann spielte er wieder. Das Jahr, das so schlecht begann, wurde sein bestes.

Der Blick vom Gipfel

Bevor er nach Teheran reiste, gelangen ihm fünf überzeugende Turniersiege. In dieser Form war Alexej Schirow kein Gegner für Anand. Das erste, was Anand nach seinem Sieg machte, war seinen ersten Trainer, Mutter Sushila, anzurufen. Diese tadelte ihn dafür, dass er beim 19. Zug nicht gleich Schirows Dame genommen habe. Vor der Presse philosophierte er: „Ich bin oft nah dran gewesen. Der Frust ist groß, wenn man weiß, dass nur ein paar Meter zum Gipfel gefehlt haben. Diesmal wollte ich auf den Gipfel. Ich kann bestätigen, dass der Blick wunderschön ist.“ Auf die Frage, ob er sich als Weltmeister fühle, obwohl Wladimir Kramnik und Garri Kasparow beim WM-Turnier in Delhi und dem Iran nicht dabei waren, antwortete er: „Ich kann nichts dafür, dass sie nicht da waren. Wenn ein gutes Angebot vorliegt, wäre ich auch bereit gegen sie zu spielen. Bis dahin genieße ich es, Weltmeister zu sein.“

Mit Kasparow hat Anand keine guten Erfahrungen gemacht. Vor der WM 1995 in New York wurde er regelrecht schikaniert. Mal wollte Kasparow nicht in New York spielen, mal doch. Mal passte der Termin nicht, mal doch. Während dieser Zeit musste Anand Qualifikationsspiele absolvieren und zusätzlich alle Verhandlungen selbst führen. Kasparow hingegen hatte einen Beraterstab. Auch während der Begegnung ging es nicht immer fair zu. Oft spielte Kasparow einen Zug, stand plötzlich auf, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Heute sieht die Sache etwas anders aus. Kasparow möchte unbedingt gegen den frisch gekrönten Weltmeister spielen. Aber Anands Tür bleibt vorläufig geschlossen.