Laizistische Abrüstung

Rom erholt sich vom Heiligen Jahr. In einer der breitesten intellektuellen Debatten der letzten Jahre diskutiert Italien den Wert der Aufklärung. Sie hat gegen die Kirche gerade einen schweren Stand

von MARINA COLLACI

„Gegen den Strom“ – eigentlich war es nur eine etwas lang geratene Buchrezension, anscheinend einer jener Bleifriedhöfe für Intellektuelle, die der Nestor des italienischen Journalismus, Eugenio Scalfari, am 3. Dezember 2000 in der großen liberalen Tageszeitung La Repubblica veröffentlichte. „Against the current“: So heißt im Original die jetzt auf Italienisch erschienene Essaysammlung Isaiah Berlins, der Scalfaris Mühe galt. Gegen den Strom zu schwimmen beanspruchte der Rezensent dann aber vor allem für sich selbst – und löste eine der breitesten intellektuellen Debatten aus, die Italien in den letzten Jahren sah.

Bei aller Wertschätzung für den lettisch-britischen Denker – Berlins neu aufgelegten Reflexionen galt das Interesse nicht. Es war Scalfaris Ärger über das Buch, der den Streit auslöste. Ein schönes Werk sei das, nüchtern-distanziert präsentiere es die philosophischen Querdenker, aber vergesse im breiten Panorama die Meister der Aufklärung. Der Eindruck dränge sich auf, dass Berlins Herz für die Romantiker schlage, wenn er das französische Trio Voltaire, Diderot, Rousseau ebenso übergehe wie das englische Dreigestirn Hume, Locke und Newton. Deren Botschaft sei aber so aktuell wie je. „Unsere moderne Welt leidet am Mangel an Vernunft, die Vernunft muss historisch und philosophisch wiedererlangt werden“, beklagt sich Scalfari, und dann kommt er zur Sache. Den Aufklärern sei der Kampf gegen den Wahrheitsanspruch der Religion genauso zu verdanken wie der gegen die weltliche Macht der Kirche.

Ja und, fragen Leser nördlich der Alpen, warum die Schlachten von gestern aufwärmen? Doch Italien erholt sich gerade vom Heiligen Jahr, einem Jahr, das der Vatikan zu einer klerikal-konservativen Offensive nutzte. Scalfaris Plädoyer für ein „laizistisches“ Italien wirkt da alles andere als deplatziert. Doch die von ihm angestoßene Debatte erinnerte arg an folgende von Heiner Müller kolportierte Anekdote: Nachdem seine „Umsiedlerin“ in der DDR verboten worden war, kam Hanns Eisler mit einem Ratschlag zu ihm: „Denken Sie an Schiller, ein österreichischer Tyrann wird in der Schweiz ermordet, solche Dramen müssen sie in Deutschland schreiben.“

So kam die Kirche in den Erwiderungen auf Scalfari kaum vor; stattdessen gab sich das aufklärerische Denken erstaunlich defensiv.

Der Philosoph Franco Volpi etwa lässt wissen, die Aufklärung sei unumgänglich für unsere Weltanschauung heute, doch der sueño de la razon, der Traum der Vernunft, habe Monster gezeugt. Zu wichtig seien Mythen, Symbole, das Geistliche überhaupt, um sie der Unvernunft auszuliefern. Der Konflikt zwischen der Wissenschaft und der katholischen Religion sei halt „eine anthropologische Krise“. Nichts zu machen also. Auch Umberto Eco tritt merkwürdige Beweise an, um aufklärerisches Denken im täglichen Leben aufzuspüren. Wenn ein Mann einen anderen erschlage, dann sei das unvernünftig, bleibe der Täter am Ende doch allein, ohne Gesellschaft. So wird die Nächstenliebe zum Vernunftgebot, Jesus zum ersten Aufklärer – und alle Gegensätze sind versöhnt.

Auch beim früheren Kommunisten Gianni Vattimo verschwimmen die Fronten. Gegner homosexueller Lebensgemeinschaften will er in klerikalen genauso wie in „aufklärerischen“ Kreisen ausgemacht haben. Wo dagegen die Befürworter schwul-lesbischer Gleichberechtigung zu finden sind, behält Vattimo für sich.

Es blieb so letztlich Eugenio Scalfari allein überlassen, an die harten Fakten zu erinnern. „Das Heilige Jahr – Bilanz eines nicht gläubigen Laizisten“ überschrieb er seine Erwiderung. Allein der Vatikan sei es gewesen, der sich im Jahr 2000 heftige Ausfälle gegen den World Gay Pride, das in Rom abgehaltene Weltschwulentreffen, geleistet habe. Den Ehrengast Jörg Haider dagegen habe der Papst dann im Dezember gern empfangen, während der Erzbischof von Bologna gegen Muslim-Immigranten tönte, die Italien eine „islamische Invasion“ bescherten. Und nicht zu vergessen seien die öffentlichen, vom Kardinal Camillo Ruini als Chef der nationalen Bischofskonferenz ausgerichteten Demonstrationen für die Finanzierung katholischer Privatschulen durch den italienischen Staat genauso wie das Ratzinger-Papier „Dominus Jesus“, das noch mal erklärt, warum allein der katholische Glaube selig macht.

Scalfaris Liste ließe sich bequem durch zahlreiche andere Episoden ergänzen. Italiens staatliche Fernsehanstalt RAI schloss im Heiligen Jahr einen förmlichen Vertrag mit dem Vatikan, der die Übertragung aller Jubiläumsspektakel genauso vorsieht wie die Ausstrahlung frommer Filme zur Hauptsendezeit. Und Roms städtischer Theaterchef musste kürzlich den Hut nehmen – er hatte es gewagt, ausgerechnet zum „Jubiläum“ eine islamische Theatertruppe einzuladen. Derweil sprach Johannes Paul einen seiner Amtsvorgänger, den reaktionären Antidemokraten und Antisemiten Pius IX., selig – und Italiens Aufklärer hielten still. Eine Stille, die nach der jetzigen Debatte nicht überrascht: Italiens Laizisten haben abgerüstet, einseitig leider und ohne Gegenleistungen.