ANDERS ALS VON VIELEN ERWARTET WIRD DER KONGO NICHT ZERFALLEN
: 250 Völker, eine Nation

Kabila ist tot, sein System lebt weiter. Es gehört zu den vielen Geheimnissen der Demokratischen Republik Kongo, dass ihr verblichener Präsident zwar ein allein auf seine Person ausgerichtetes Herrschaftssystem aufbaute, dieses aber ohne ihn weiterläuft, als sei nichts geschehen. Das Land mag von Warlords zerfleischt sein und von unzähligen Milizen zerfressen werden, aber ganz Kongo hält vereint den Atem an, in gemeinsamer Angst über die möglichen Folgen des Mordes im Marmorpalast.

In seiner Geisterstunde erweist sich der Kongo als einiger und zählebiger, als diejenigen für möglich halten, die meinen, ein Land von der Größe Westeuropas ohne Infrastruktur könne nur durch Intrigen und Gewalt zusammengehalten werden. Viel wird in diesen Tagen in Europa vom „Herzen der Finsternis“ geraunt – aber es war Europa, das Finsternis in den Kongo brachte, durch die belgischen Kolonisatoren, die vor hundert Jahren die Hälfte der 20 Millionen Bewohner umbrachten.

Zwar einte die 250 Völker des späteren Kongo vorher wenig, aber die Kolonialzeit hat die kongolesische Nation gerade durch ihre Unmenschlichkeit erst geschaffen, als Reaktion auf den weißen Terror. Die kongolesische Identität ist keine ethnische Gemeinschaft, sondern eine Attitüde. Es ist der Akt des Widerstandes und des aufrechten Ganges, der den Kongo als Nation prägte, verkörpert durch Nationalhelden wie Patrice Lumumba mit ihrem störrischen Selbstbewusstsein, durch die Nationalhymne mit dem viel sagenden Titel „Debout Congolais“ („Aufrecht, Kongolesen!“) und durch einen noch heute zu beobachtenden Hang zur Großspurigkeit und zum Genießertum selbst angesichts der schlimmsten Widrigkeiten.

Diese kongolesische Kultur ist ein flexibles Instrument zur unverwechselbaren Gestaltung despotischer Lebensumstände – in den Sümpfen des Kongobeckens, in den Savannen an den Oberläufen des Nils, in den kühlen Bergen an den östlichen Großen Seen oder in den Bergwerken Katangas. Ihre Vielseitigkeit hat jahrzehntelang in ganz Afrika verführerisch gewirkt und afrikanische Despoten verärgert, und selbstverständlich hat sie die eigenen Diktatoren problemlos überstanden.

30 Jahre Joseph-Désiré Mobutu, der das Land in „Zaire“ umbenannte und durch unzählige Kulturrevolutionen schleifte, christliche Namen und europäische Kleidung verbot, bevor er sich einfach auf die Selbstbereicherung beschränkte, hinterließen eine geeintere Nation, als er sie 1965 vorgefunden hatte. Die vielen Befürchtungen, nach Mobutus Sturz durch Kabila 1996/97 könne Zaire zerfallen, waren daher völlig verfehlt. Vielmehr trug der Wunsch, eine Nation zu sein, Kabila an die Macht und hielt ihn dort auch noch, als er sich neuen Rebellionen gegenübersah und die Kontrolle über zwei Drittel des Landes verlor.

Kabilas neuer Nationalismus war jedoch eine Karikatur, eine Pervertierung der einst ehrbaren Motive. Die Kabilisten, die das eigene Volk mit Willkürherrschaft gängelten, haben die multikulturelle, universalistische Botschaft des kongolesischen Nationalismus nie verstanden. Sie wollten daraus eine völkische Gemeinschaft pressen und diese in den Dienst des Individuums Kabila stellen.

Es ist typisch für die Kongolesen, dass sie sich darüber nicht einmal richtig aufregten. Es war ihnen einfach zu blöd. Denn war die kongolesische Nationalidentität eine Reaktion auf nackte Unterdrückung, so hat Kabilas Größenwahn als Reaktion etwas anderes hervorgerufen: den Rückzug aus der Politik, die Fixierung auf das private Glück und den Abschied von hochfliegenden Ambitionen. Dies liegt auch an der verzweifelten Lage der Bevölkerung in einem von Krieg und Ausplünderung zerstörten Land, wo über 80 Prozent der Menschen in absoluter Armut leben. Außerhalb der Hauptstadt Kinshasa ist von politischem Engagement kaum noch etwas zu sehen.

Die Kongolesen sind zu klug, als dass sie jetzt hoffen, ohne Kabila sei ein normales Leben plötzlich greifbar nah. Aber Kabilas Ermordung befördert die Nivellierung von Kongos politischer Klasse. Eine 30-tägige Staatstrauer in Kinshasa garantiert, dass sich für einen Monat nichts bewegt – jedenfalls nicht auf Initiative der Machthaber. In dieser Zeit des Stillstands werden die Bewohner des kabilistischen Hofes die Machtbalance an der Staatsspitze neu ausdealen – unter Ausschluss des Volkes, aber mit seiner Anteilnahme. Wenn daraus kein neuer megalomaner Diktator hervorgeht, könnten sich demnächst vielleicht ganz normale Leute bemüßigt sehen, die Staatsgeschäfte zu übernehmen. Dann endlich könnte Demokratie für den Kongo kein Fremdwort mehr sein.

DOMINIC JOHNSON