Von der Integration zur Differenz

Lange Zeit galt die französische Schule als Integrationsmaschine und als Schmiede der Nation. Auf die Konflikte zwischen und mit den Einwanderern reagieren Bildungspolitiker und Vorschullehrer aber zunehmend hilflos

„Ich mag die Franzosen sowieso nicht.“ Als sie diesen Satz aus dem Mund eines Vierjährigen hörte, zuckte selbst Isabelle Popelin zusammen. Dabei ist die Vorschullehrerin in einem der so genannten „heißen Vororte“ Frankreichs eine Menge gewohnt. Die brachialen Reaktionen in ihrem Berufsalltag in einer „ZEP“ – einer „prioritären Erziehungszone“ – reichen von angekratztem Autolack bei dem kleinsten Problem eines Schülers über ausgeraubte Klassenräume bis hin zu offen mit Gewalt drohenden älteren Geschwistern. Aber dass schon Vierjährige antifranzösische und antiweiße Vorurteile reproduzieren, ist für sie eine neue Qualität.

An den „ZEPs“ – mit Vorschul- und Grundschulklassen – konzentriert sich vieles von dem, was Frankreichs soziale Probleme sind. Die ZEPs wurden 1981 geschaffen, um der zunehmenden sozialen Ausgrenzung und dem Schulversagen zu begegnen. Ihre Zielgruppe sind sowohl Kinder aus Einwandererfamilien als auch solche aus alteingesessenen Familien in sozial schwachen Verhältnissen. Ihre Klassen sind mit 20 statt 28 Schülern besetzt, es gibt Minigruppen zur intensiven französischen Sprachförderung, es ist geringfügig mehr Geld für Unterrichtsmittel vorhanden. Alles dient dem Ziel der Integration und der Vermeidung von Gewalt.

Im Einzelfall ist das oft schwierig. Die ZEP in Saint Aignan, wo Isabelle Popelin arbeitet, liegt in einer Vorstadt des zentralfranzösischen Pithiviers, wo die Bauern einen der höchsten Vermögenssteuersätze Frankreichs zahlen müssen. Die Wohntürme rund um die ZEP kontrastieren mit ihrem Reichtum. Sie entstanden für die Einwanderer aus Nord- und Schwarzafrika, die in den 60er- und 70er-Jahren kamen, als es noch Jobs in der örtlichen Hühnerfabrik und anderen Industrien gab.

Manche Einwanderer waren schon bei ihrer Ankunft Franzosen, die meisten anderen sind es inzwischen längst geworden. Mitte der 90er-Jahre kam es in Saint Aignan zum Knall. Plötzlich prügelten Schüler aus marokkanischen und senegalesischen Nachbarfamilien aufeinander ein, verweigerten sich den Gruß, den Handschlag und sogar den Blick.

Für solche Fälle gibt es keine Lehrpläne. Da helfen auch keine Zusatzausbildungen. Ganz allein mussten die Lehrer der örtlichen ZEP versuchen, das Terrain zu entminen. Vor Klassen voller Schüler, die mit geballten Fäusten am Tisch saßen, sprachen sie über Toleranz, über verschiedene Götter, verschiedene Hautfarben, verschiedene Sprachen und verschiedene Kulturen.

„Bei den Kleinen im Vorschulalter geht das noch“, sagt Isabelle Popelin, „mit ihnen konnte ich auch jetzt im Ramadan wieder darüber reden, wessen Eltern fasten und wessen nicht. Aber wenn sie erst mal in der Grundschule sind, wird der Dialog extrem schwierig.“ In der Schule von Saint Aignan schlagen die nord- und schwarzafrikanischen Kinder heute nicht mehr aufeinander ein. Aber es kommt immer häufiger vor, dass Zehnjährige türenknallend das Klassenzimmer verlassen, weil ihr Lehrer behauptet, der Regen sei ein physikalisches Phänomen. Und dass die Zurückbleibenden ihn belehren: „Falsch. Allah hat den Regen gemacht.“ Abends, wenn die ZEP geschlossen ist, gehen auch die Bandenkriege weiter.

Nicht nur in Saint Aignan ist die Integration à la française ins Stocken geraten. Im größten Einwandererland des Kontinents, das in den ersten drei Vierteln des 20. Jahrhunderts Millionen von Menschen aus Ost- und Mitteleuropa aufgenommen hat, überschatten seit den 80er-Jahren zunehmend Konflikte das Zusammenleben. Von der Arbeitslosigkeit und gewalttätigen Zusammenstößen in den Vorstädten über das Aufkommen der rechtsextremistischen „Front National“ bis hin zu immer neuen Variationen und Einschränkungen der französischen Einbürgerungspolitik – die jedes Mal auch die Arbeit in den Schulen beeinträchtigen.

Die „Éducation Nationale“, die staatliche Schule, war jahrzehntelang die wichtigste Institution für die Integration von Einwandererkindern. Ihre strengen Prinzipien – zu denen neben dem inzwischen abgeschafften Uniformtragen auch die Laizität gehört, die strikte Ausgrenzung jeder Art von Religion aus der Schule – machten viele Unterschiede vergessen. So wurden Kinder aus bretonischen Bauernfamilien, aus jüdischen Familien aus Galizien und aus spanischen Arbeiterfamilien in der „Éducation Natinale“ binnen weniger Jahre zu kleinen „citoyens“ voller Stolz auf die französische Kultur. Die „Éducation Nationale“ schuf den Nationalstaat.

Darüber, warum dieses Modell seit dem vierten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht mehr richtig funktioniert, rätseln heute die Soziologen. An den Einwandererzahlen, mit deren angeblich unerträglicher Höhe nicht nur die rechtsextremen Politiker ihre Propaganda betreiben, kann es jedenfalls nicht liegen. Die sind seit Anfang der 80er-Jahre kontinuierlich und ab 1990 radikal zurückgegangen. Geändert hat sich bloß die Herkunft. Während früher die meisten Einwanderer aus christlich geprägten europäischen Ländern kamen, stammen sie heute vor allem aus Afrika.

Geändert hat sich aber auch die französische Schulpolitik. Seit Anfang der 80er-Jahre und parallel zum Aufkommen der Front National experimentiert sie erstmals mit Dingen wie der „Interkulturalität“ und dem „Recht auf den Unterschied“. Gelegentlich ist sogar von dem früheren Tabuwort „Ethnizität“ die Rede. Die ZEPs sind eine von vielen Folgen dieser Risse im jakobinischen System, das trotz seiner französischen Erfolge in Europa völlig isoliert geblieben ist.

In Saint Aignan, wo Isabelle Popelin unterrichtet, haben die meisten Schulkinder denselben Pass wie ihre Lehrerin. Wenn sie sie trotzdem als „Französin“ beschimpfen und das Kopf-ab-Zeichen machen, vermutet die Lehrerin dahinter den wachsenden Einfluss islamisch-fundamentalistischer Gruppen. Denn die meisten Eltern sind der „Éducation Nationale“ gegenüber aufgeschlossen. Sie verstehen sie als einzige Möglichkeit ihrer Kinder, nicht in der Hühnerfabrik oder als Drogendealer zu enden.

In Frankreich gehen 84 Prozent der über dreijährigen Kinder in die Vorschule. „In Saint Aignan gibt es Mütter, die ihre Kinder schon mit zwei schicken würden“, sagt Isabelle Popelin, „sie erwarten viel von der Schule.“ DOROTHEA HAHN, PARIS