Das Kunterbunt der Stämme

Während die einen preußische Jubiläen feiern, fragt die deutsch-polnische Gesellschaft, wie deutsch Brandenburg sei. Dort rühmt man sich flämischer, französischer oder westfälischer Ursprünge. Nur die slawische Quelle fristet ein Schattendasein

Erst in Zeiten des Tourismus streiten Beelitz und Belzig um eine slawische Burg

von CHRISTIAN SEMLER

Zeitgleich mit dem Beginn der Jubelfeiern zum 300sten Geburtstag des Königreichs Preußen fand am Mittwochabend in Potsdam eine Veranstaltung etwas sehr anderer Art statt. Die deutsch-polnische Gesellschaft Brandenburg und das deutsch-polnische Jugendwerk hatten zu einer Veranstaltung zum Thema „Die slawische Vorgeschichte der deutsch-polnischen Grenzregion – oder: Wie deutsch ist Brandenburg?“ eingeladen. Zufällige Koinzidenz oder abgefeimte Absicht? Jedenfalls geriet der Abend vor dicht gedrängtem Publikum zur gelungenen Kontrastveranstaltung.

Es referierte Joachim Herrmann, Doyen der Forschung zur slawischen Siedlingsgeschichte zwischen Elbe, Saale und Oder. Ihm und seinem polnischen Kollegen, dem Archäologen Wladislaw Filipowiak, standen zwei höchst lebendige Vertreter der slawischen Gegenwart auf deutschem Boden gegenüber: der Direktor des Sorbischen Instituts in Bautzen Dietrich Scholze und der Abgeordnete Heiko Kosel, der als Sorbe für die PDS im sächsischen Landtag sitzt. Dem polnisch-deutsch-sorbischen Publikum, einer lockeren Mischung aus Heimatliebhabern und im Kampf gestählten Multikulturalisten, war auf alle Fälle eine Überzeugung gemeinsam: Sie pfiffen auf ethnische Homogenität und auf ein enges, sich an die Staatsnation klammerndes Geschichtsverständnis.

Im letzten Punkt war sich die Versammlung sogar mit dem (auf der preußischen Konkurrenzveranstaltung weilenden) Ministerpräsidenten Manfred Stolpe einig. Hat der doch schon vor etlichen Jahren die rhetorische Frage gestellt: „Wer von uns [Brandenburgern] hat denn keine wendische Großmutter?“

Tatsächlich ist es um die Stammesreinheit in der Region schlecht bestellt. Über die Hälfte der Ortsnamen ist slawischen Ursprungs. Und alle Namen, die auf -cki enden (wie die mit Recht beliebte Berliner Fischhandlung Rogacki), sowie diejenigen, die (mit einem slawischen Stamm versehen) auf die Verkleinerungsform -ke enden (Dutschke!) können sich leider keiner germanischen Herkunft rühmen.

Die westslawischen Stämme wehrten sich lange und verbissen dagegen, zur Mark Brandenburg zu werden. Vom überlegenen Gegner schließlich besiegt, zogen sie sich in die „Kieze“ zurück, vermischten sich und gaben ihre Sprache auf. Nur die beiden Stämme an der Lausitz, eben die Sorben, hielten in ihrem Randgebiet an Sprache und Gebräuchen fest. Während es aber heute zum guten Ton gehört, auf die flämischen, französischen, westfälischen Ursprünge eines gewichtigen Teils der Bevölkerung Brandenburgs hinzuweisen, fristet die slawische Quelle bislang eher ein Schattendasein.

Zu DDR-Zeiten sah es diesbezüglich etwas besser aus. Aber auch hier tobte eine untergründige Auseinandersetzung unter den Historikern. Die einen, wie Joachim Herrmann, forschten nach slawischen Siedlungen zwischen dem siebten und zwölften Jahrhundert. Sie förderten die Kolonisationsgeschichte des seit der Völkerwanderung fast gänzlich menschenleeren Raumes zutage: dichte Besiedlung, Handel und Wandel, Burgen und Fernstraßen, wo zu Hauf arabische Silbermünzen ausgegraben wurden, kurz eine Zivilisation, auf die sich die spätere „deutsche Ostkolonisation“ stützen konnte.

Für die anderen war das Kunterbunt der mal miteinander verbündeten, mal sich bekriegenden Stämme nichts als eine geschichtslose Epoche. Das war auch die Haltung des Mainstreams der deutschen Historiker im 19. Jahrhundert, die, wie Leopold von Ranke, nichts gelten ließen außer schriftlichen Quellen. Und über die verfügten nun mal die slawischen Siedler zwischen Oder und Elbe nicht.

Erst in jüngster Zeit, im Zeichen des Fremdenverkehrs, bahnt sich ein Wandel an. So stritten sich Beelitz, die Spargelsadt, und Belzig jüngst um das Privileg, die Überreste einer slawischen Burg zu beherbergen. Und Ausgrabungen an der ursprünglich slawischen Spandauer Burg locken Mittelalter-Fans.

Weniger glücklich sind die Nachfahren der Slawen dran. Die Brandenburgische wie die sächsische Verfassung schreiben die Rechte der sorbischen Minderheit fest, bei gutwilliger Interpretation könnte man sogar im Fall Sachsen von einem Bekenntnis zum Zwei-Völker-Staat reden. In Brandenburg existiert ein sorbisches Beratungsgremium, das bei einschlägigen Gesetzesvorhaben gehört werden muss. Wenn man bedenkt, dass zu Zeiten der Nazis sogar daran gedacht wurde, die Sorben in toto ins Generalgouvernement abzuschieben, wenn man sich ferner daran erinnert, dass die Zuschreibung als „Wende“ seit jeher in beleidigender Absicht geschah, wahrhaftig eine Wendung zum Besseren.

Aber es droht jetzt die Kürzung bzw. Streichung der Mittel für die sorbische Nationalstiftung, die Existenz der sorbischen Schulen Sachsens ist in Gefahr, die hohe Arbeitslosigkeit zwingt viele Sorben zur Abwanderung. „Es gibt bei uns keine Neonazis“, erklärten die sorbischen Vertreter auf der Versammlung kategorisch. Sollte allein dieser Umstand nicht Grund zu intensiverer Förderung sein? Und sollte nicht, so ein Teilnehmer der Versammlung, endlich ein Verfassungsartikel für die Minderheiten auf Bundesebene verabschiedet werden?