Raus aus der Falle!

Auf dem Rathaus Kaliningrads weht schon die Europaflagge

MOSKAU taz ■ Aus Kaliningrad sollte eines Tages mal ein „Hongkong an der Ostsee“ werden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte man hochfliegende Träume in dieser Region, die sich 1991 plötzlich vom russischen Mutterland abgeschnitten sah. Doch statt Visionen haben die Kaliningrader inzwischen gemischte Gefühle. Was kommt auf sie zu, wenn erst einmal die Nachbarn Polen und Litauen hinter den Wällen des Bollwerks Europa verschwunden sind?

Das Wohlstandsgefälle zu Litauen und Polen ist in Kaliningrad heute schon sichtbar. Nach offiziellen Angaben lebt ein Drittel der 800.000 Einwohner des Verwaltungsbezirks am Rande des Existenzminimums. Vor allem ehemalige Militärs der in Kaliningrad stationierten russischen Ostseeflotte fristen ein trübes Dasein. Viele sind gezwungen, sich durch Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung hat ein deutlich niedrigeres Niveau als in den angrenzenden Regionen. Bei den HIV- Infektionen hält das Gebiet seit Jahren unangefochten den Spitzenplatz in der Russischen Föderation. Ein zusätzliches Problem stellen die ökologischen Belastungen aus der Sowjetzeit dar. Damals diente das Gebiet als waffenstarrender Vorposten der UdSSR zur Nato. Angesichts dieser Probleme ist der EU klar: Die Attraktivität der Nachbarn Kalinigrads würde wie ein Sog auf potenzielle Immigranten aus dem Armenhaus wirken.

Eine Konzeption für die Region muss solchen Tendenzen vorgreifen und Lösungen anbieten, die die Auswirkungen des Schengener Visaregimes abschwächen. Denn das Gebiet ist auf Gedeih und Verderb vom Handel mit den Anrainern abhängig. 80 Prozent der Lebensmittel werden von dort importiert, im letzten Jahr passierten allein 8 Millionen Menschen und 3 Millionen Autos die Grenzen zu Litauen und Polen. Werden diese Bande gekappt, wächst unweigerlich das Gefühl der Isolation. Chancen würden vergeben. Im Unterschied zu den Russen des Mutterlands fühlen sich die Kaliningrader inzwischen nämlich als EU-Russen. Das bedeutet nicht gleich, dass sich eine neue, fest umrissene Identität herausgebildet hätte. Es besagt aber, inwieweit die Ausrichtung auf Europa an Bedeutung gewonnen hat. Im Vergleich zu Bürgern russischer Provinzen haben Kaliningrader, die zwölfmal häufiger die Fremde bereist haben als ihre Landsleute in der Föderation, engeren Kontakt mit dem Ausland. Ein Brückenprojekt zwischen West und Ost wäre dann nicht auf Sand gebaut.

Finnland und Litauen haben sich im Rahmen der „Nördlichen Dimension“ am meisten um Kooperation verdient gemacht und setzen auch weiterhin darauf, durch regionale Verflechtung der Isolation vorzubauen. Sechs europäische Länder sind dem Beispiel gefolgt und haben Konsulate eröffnet.

Nicht alles hängt indes von der EU ab. Moskau hat sich lange geweigert, den Status der Region überhaupt als ein Problem wahrzunehmen. Überraschend schlug Präsident Putin im Sommer vor, die Region zum Gegenstand eines Pilotprojekts zu machen, widerrief das Vorhaben aber kurz danach bei einem Besuch vor Ort. Die schwankende Haltung erinnert an die Kreml-Politik der vergangenen Jahre. Erst erhielt Kaliningrad den Status einer Freihandelszone, dann wurde es in eine „Sonderwirtschaftszone“ mit weniger Kompetenzen umgewandelt. Diesem Konstrukt legte Moskau indes alle nur erdenklichen bürokratischen Hindernisse in den Weg.

Nach wie vor ist das Gebiet für den Kreml eine Zone höchster Sensibilität. Moskau befürchtet, eines Tages könnte es sich aus der Föderation lösen. Nicht erkannt hat man, dass diese Gefahr um so mehr steigt, je schlechter die Lebensbedingungen dort sind.

Dennoch hat auch Moskau erkannt: die EU ist zum wichtigsten Partner herangewachsen. Eines Tages wird es seine Blockadehaltung aufgeben müssen. Schon jetzt weht auf dem Kaliningrader Rathaus die Europaflagge. Eine örtliche Initiative. KLAUS-HELGE DONATH