DIE BESETZUNG DES TSCHECHISCHEN FERNSEHENS IST VORBILDLICH
: Lob der Havlokratie

Neidisch verfolge ich die Berichte der ungarischen und deutschen Zeitungen über die Prager Ereignisse. Aus Protest dagegen, dass man auf den Generaldirektorssessel des tschechischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens einen offenen Gefolgsmann der Partei von Václav Klaus gesetzt hat, haben die Journalisten ihren Arbeitsplatz besetzt und wollen nicht eher ruhen, bis ihr neuer Chef abgelöst wird und das Fernsehen von den politischen Parteien unabhängig ist. Ihre Bewegung wird von hunderttausenden Demonstranten unterstützt.

Zu Recht: Wenn in irgendeinem Fernsehrat der Kandidat der stärksten Oppositionspartei mit den Stimmen der Regierungspartei auf den Direktorenstuhl gehievt wird, dann ist es nicht schwierig, die Quelle des Gestanks ausfindig zu machen. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Zeman hat im Austausch gegen das Wohlverhalten von Klaus’ rechtsgerichteter Partei im Parlament das Prinzip der Neutralität des öffentlich-rechtlichen Fernsehens über Bord geworfen – ein Verhalten, das auch Präsident Václav Havel kritisierte.

Klaus selbst hat die Fernsehschlacht in einem Interview als einen Konflikt zwischen Demokratie und „Havlokratie“ bezeichnet. Der neue Generaldirektor des Fernsehens wurde nämlich nach allen Spielregeln der Demokratie ernannt. Die „Havlokratie“ dagegen geht von einer Variante der Theorie des Gesellschaftsvertrags aus: Die Bürger können sich der Staatsgewalt auch dann widersetzen, wenn diese sie nicht durch Gesetzesverletzung, sondern durch Rechtsverletzung demütigt.

Die Demokratie trägt immer die Möglichkeit in sich, dass die von ihr garantierten Rechte zu einer leeren Formalität werden. So schützen etwa die demokratischen Verfassungen im Prinzip die Würde eines jeden Menschen, in der Praxis jedoch lässt sich die Würde ohne Wohnung und Nahrung nur schwer wahren. Auch das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz gerät in eine Zwickmühle – so wie wir es heute in Ungarn erleben können – wenn der Generalstaatsanwalt sich wie ein Parteisoldat verhält. Die „Havlokratie“ dringt darauf, dass – anstatt die Gesetze nur formal zu achten – dem Geist der demokratischen Gesetze Geltung verschafft werden muss. Diese Einstellung beschert uns eine Reihe von Dilemmata. Wo ist die Grenze, von der ab wir gegen die Formalisierung der Gesetze auftreten können? Wann kann unsere Bewegung des zivilen Ungehorsams zu welchen Mitteln greifen? Wie können wir die Demokratie vor jenen antidemokratischen Kräften schützen, die sich auf unser Beispiel berufen, aber nicht gegen die Formalität der Gesetze, sondern gegen ihren Geist auftreten? Die „Havlokratie“ oder, um einen allgemeineren Ausdruck zu benutzen: die Citoyen-Mentalität nimmt diese Dilemmata mit optimistischem Pathos auf sich. Zur Zeit stellt sie in Prag die Frage: Soll man sich damit abfinden, dass durch die Einhaltung der demokratischen Formen die Pressefreiheit beschnitten wird? Havel beantwortet sie mit nein – freilich hat er sich auch schon als Oppositioneller über die Gesetze hinweggesetzt. Allerdings hat er damals nicht die demokratischen, sondern die Gesetze des Parteienstaates abgelehnt, doch betrachtet er die Verteidigung der Pressefreiheit gegenüber der parlamentarischen Mehrheit offensichtlich als Kampf gegen einen historischen Rückfall.

Bei uns in Ungarn, wo man die linke Opposition zwingen will, die Kandidaten für die Medienkontrollorgane gemeinsam mit der rechtsradikalen Scheinopposition aufzustellen, kann auch die Havlokratie mangels gesetzlicher Zustände keinen Boden gewinnen. Anders als Klaus und seine Mannen schert die Orbán-Regierung sich überhaupt nicht um demokratische Formen und beschneidet die Pressefreiheit. Die Mitarbeiter des tschechischen Fernsehens empören sich also gegen Zustände, die aus ungarischer Sicht beneidenswert sind.

Und dennoch gibt es in Ungarn keine Spur von Widerstand. Und weil das so ist, plant die ungarische Regierung sogar während des tschechischen Aufruhrs die gesetzliche Einschränkung der Pressefreiheit. Vertreter der Regierungsparteien bereiten ein Gesetz vor, das die Kritik an Personen mit Sanktionen bedroht. Einige interessierte Journalisten und Redakteure werden dagegen protestieren, doch geht in Ungarn niemand für Prinzipien auf die Straße. Mir bleibt da nur eines: Ich schaue wieder in die tschechischen Zeitungen und lese neidisch das Neueste aus Prag. ISTVÁN EÖRSI

Schriftsteller in Budapest (Übersetzung: Angela Plöger)