Machtkampf im Nebel?

Ein chinesischer Regierungssprecher dementiert die veröffentlichten Protokolle über das Tiananmen-Massaker nur halbherzig und trägt nichts zur Klarheit bei

BERLIN taz ■ Chinas Regierung hat gestern erstmals auf die Veröffentlichung geheimer Politbüroprotokolle von 1989 reagiert und die damalige Niederschlagung der Demokratiebewegung verteidigt. Außenamtssprecher Zhu Bangzhao bezeichnete die in mehreren US-Medien veröffentlichten „Tiananmen-Papiere“ indirekt als Fälschung. Doch er sagte trotz Rückfragen nicht, was daran gefälscht sei. Zhu vermied auch, das damalige Ringen im Politbüro um den Militäreinsatz zu erwähnen. Er wiederholte das Wort „politische Turbulenz“ als offizielle Bezeichnung des Massakers und verschwieg, dass diese Bezeichnung 1989 nicht von der Führung als Sprachregelung beschlossen worden war. Damals war von „konterrevolutionärem Aufstand“ die Rede.

Zhus Stellungnahme wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Seine deutliche Vorsicht stärkt den Verdacht, dass es sich um einen zugespitzten Machtkampf in der jetzigen Führung handeln könnte. Auch jenseits der Kaffeesatzleserei um die „Tiananmen-Papiere“ verdichtet sich der Nebel. In einem Internet-Diskussionsforum gedachte zuerst der Armeeautor Wei Wei dem großen Steuermann Mao Tse-tung und verdammte die Demokratiebewegung 1989 als Umsturzversuch. Dann aber kritisierte auf derselben ultralinken Webseite ein Diskutant die jetzige Führung um Jiang Zemin und auch Deng Xiaoping: Zu Maos Zeiten habe sich die KP um des Volkes Belange gekümmert, die Führung sei nicht korrupt gewesen und die Eintracht des Volkes garantiert. Dies habe sich unter Dengs Reformkurs radikal geändert, was zum Wutausbruch des Volkes geführt habe. Explizit wird die Führung nach 1992 attackiert: Hätte sie wie Mao am sozialistischen Weg festgehalten, wäre Chinas Staatsapparat heute nicht korrumpiert. Interessant auch hier: Beide Autoren gingen nicht auf die Frage ein, ob die in den USA publizierten Papiere echt sind oder nicht.

Auch auf der Gegenseite rumort es. Die im südlichen Guangzhou erscheinende Tageszeitung Nanfang Ribao druckte eine Rede von Li Ruihuan, der Nummer vier der KP. Der Autor interpretierte Lis Worte, man müsse heute mehr denn je auf das Mehrheitsprinzip achten, so: Bei jeder Entscheidung müsse die Partei prüfen, ob die den Interessen der Bevölkerungsmehrheit und ihrer Stimmung entspreche. 1989, zur Erinnerung, war die Stimmung der Bevölkerung vor allem im Süden bis zum Massaker zugunsten der Demokratie fordernden Studenten. Heute, elf Jahre später, fordern südchinesische Ökonomen wie Sozialwissenschaftler unverhüllt wieder einen politischen Wandel hin zum Pluralismus.

Weder Ultralinke noch Neoliberale gehen heute eindeutig von einer „internationalen Verschwörung“ gegen Chinas Sozialismus aus, die die Führung 1989 mit bewog, den Schießbefehl zu geben. Dieser neuen Sicht schließt sich selbst das Außenministerium an: Dessen Sprecher lässt nicht nur quasi alles im Nebel. Der britische Sender BBC, den Peking bisher mehr als jeden anderen ausländischen Sender als Störenfried ansah, erhält gleichzeitig mit dem Dementi der Tiananmen-Papiere wieder Senderecht in China, wenn auch zunächst nur in Ausländerhotels und nur auf Englisch. Das ist ein Signal politischer Aufgeschlossenheit an den Westen. In zehn Tagen tritt der neue US-Präsident George W. Bush sein Amt an. In den USA wird schon heute spekuliert, seine Regierung werde die „Tiananmen-Papiere“ beim Überdenken der bilateralen Beziehungen berücksichtigen müssen. Ein CIA-Bericht, der Präsident Jiang Zemin noch als prodemokratischen Reformer einstufte, müsse korrigiert werden. SHI MING