Der Abgrund im Kopf

Die eigene Komplexität ist nicht zu fassen: Ein Vortrag in der Urania über „Das Hirn und die menschliche Identität“ führte umgehend zu einer Debatte über letzte Fragen

Wer dem Telefontechniker am Schaltkasten über die Schulter blickt, meint angesichts des Kabelgewirrs, er blicke in den Schlund eines komplexen Systems. Doch wie sieht es da wohl erst im Inneren seines Kopfes aus!

Die „Deutsche Kultur-Gemeinschaft“ Urania hatte am Montag mit Prof. Dr. Gerald Wolf einen Telefontechniker der Meta-Ebene eingeladen. In seinem Vortrag „Das Hirn und die menschliche Identität“ wollte der Direktor des Instituts für medizinische Neurobiologie in Magdeburg ein wenig über die Geheimnisse der Verkabelung im Hirn erzählen.

Und vom „Heraufdämmern des Selbst“ über anekdotentaugliche Tierexperimente bis hin zur Frage der personalen Identität gab er das volle Programm. Als Konzession an den Zeitgeist noch Roboterethik, Kokain und Rinderwahnsinn. Dazu ein paar Designstudien aus dem Elektronenmikroskop. Gerald Wolf entpuppte sich als höflicher, aber knallharter Determinist: „In den Reihen derer, die immer den sozialen Standort betonen, ist es sehr still geworden.“

Das löste beim erstaunlich gut informierten Publikum einiges an Unbehagen aus. Da geriet die anschließende Diskussion mitunter zum Expertenstreit zwischen Akademikern und Privatgelehrten. Zunächst stand aber die praktische Dimension im Vordergrund: Wie denn die Hirnleistung verbessert werden könne, wollte ein Zuhörer wissen, und ob es wahr sei, dass das menschliche Gehirn nur zu sieben Prozent ausgelastet sei.

Er möchte gerne wissen, gab Wolf bekannt, wo diese immer wieder kolportierte, aber dennoch völlig unsinnige Behauptung ihren Ursprung hat. Und überhaupt: Die graue Hirnmasse sei kein Muskel, der sich durch Hirn-Jogging immer weiter vergrößern ließe.

„Die Natur ist nicht gerecht. Und die Möglichkeiten der Verbesserung sind sehr beschränkt.“ Gilt das dann auch für die Heilungschancen psychisch Kranker, die ja immer häufiger an Neurologen verwiesen werden? „Ja. Es gibt keine Chirurgie der Seele.“ Es regt sich Widerstand. Eine im Publikum sitzende Psychotherapeutin bittet den Redner zu klären, ob er damit meine, sie und ihre Kollegen seien nichts anderes als Scharlatane. Man einigt sich darauf, dass Mischtherapien aus Psychotherapie und Neurologie zum Erfolg führen können – in engen Grenzen, wie der Hirnforscher hinzufügt. Doch gemeinsam sei es schon möglich, aus einer hysterischen Nervensäge eine charmante Hysterikerin zu machen. Die Leute sind betroffen. Und auch in diesem Kreis führt der Weg am Gehirn vorbei direkt zu letzten Fragen.

Wie er es denn mit dem Bösen halte, wurde Gerald Wolf gefragt. Und: Was ist der Mensch? Da platzt es in der vorletzten Reihe. Dort hatte sich eine Menge Hass auf die „fingierten Fiktionen“ und das „Dogma des Materialismus“ aufgestaut, welcher sich nun mit hochrotem Kopf zu entladen drohte. Das Wesen des Menschen, es ist doch ein moralisches! Auch einen beherztes „50 Jahre zurück denken!“ konnte diesem humanistischen Gewitter keinen Einhalt gebieten.

Doch für den anwesenden Bildungsbürger hatte Gerald Wolf wenig Tröstliches zu berichten. Aus der Sicht der Wissenschaft gäbe es nun mal keine Seele, und wenn die virtuelle Welt des Ich ausgeknipst wird, ist sie spurlos und für immer verschwunden. Maschinenbewusstsein, Menschenklone, genetische Manipulation bis hin zur Beeinflussung der Hirnentwicklung – was gemacht werden kann, so Wolf, wird auch gemacht.

Das Hirn allerdings wird wohl niemals wirklich verstanden werden können. Denn ein komplexes System kann seine eigene Komplexität nicht vollständig erfassen.

Mit anderen Worten: Den Telekom-Schaltkasten kann der Techniker verstehen. Seinen eigenen wohl nicht. An diesem Abend kannte Herr Wolf kein Erbarmen. „Ihr Unbehagen verstehe ich sehr wohl. Aber ich muss das leider sagen.“

SEBASTIAN HANDKE