Pinochets Krieg gegen die Justiz

Chiles Untersuchungsrichter Juan Guzmán würde gerne den Exdiktator verhören. Der will aber nicht, und seine Anwälte ziehen alle Register, damit er nicht muss. Derweil erstattet die Militärführung erstmals Bericht über 200 „Verschwundene“

von BERND PICKERT

Chiles Exdiktator Augusto Pinochet versucht weiter mit allen legalen und illegalen Tricks, der Strafjustiz zu entkommen. Heute will der Untersuchungsrichter Juan Guzmán den 85-Jährigen erstmals in der Sache verhören. Es geht um den Fall der so genannten „Todeskarawane“, konkret um 18 Entführungen und 57 Morde, für die Pinochet sich vor Gericht verantworten soll.

Dass Guzmán Pinochet jedoch zu Gesicht bekommt, ist unwahrscheinlich. Am Wochenende hätte sich Pinochet auf Anordnung des Richters einer Untersuchung seines Gesundheitszustandes unterziehen sollen. Die sollte endgültig über die Frage der Verhandlungsfähigkeit des Generals entscheiden. Aber Guzmán und seine Gerichtsmediziner warteten am Sonntag eine Stunde und zwanzig Minuten lang vergeblich im Militärhospital von Santiago, während sich der General in seinem Ferienhäuschen in Bucalemu am Pazifik befand. Sein Anwalt Pablo Rodríguez kritisierte die Anwesenheit des Richters und seiner Ärzte im Militärhospital als PR-Gag – schließlich habe man schon vorher erklärt, dass Pinochet nicht erscheinen werde.

Die Anwälte der Kläger – in ihrer Mehrheit Angehörige der Verschwundenen – hatten beantragt, Pinochet angesichts seines Nichterscheinens in Haft zu nehmen. Gestern sollte sich Pinochet erneut im Militärkrankenhaus präsentieren, doch kommen wollte er nicht. So kann Guzmán Pinochet heute theoretisch auch ohne Gutachten vernehmen, obwohl ein solches Gutachten aufgrund Pinochets hohen Alters eigentlich zwingend vorgesehen ist. Nur: Pinochet will auch zum Verhör nicht kommen. Entzieht er sich weiterhin, kann mit Zwangsmaßnahmen gegen ihn vorgegangen werden.

Das Hin und Her illustriert die Strategie der Verteidigung, auf Zeit zu spielen und mit immer neuen großen und kleinen Behinderungen den Beginn der Strafverfahren gegen Pinochet zu verzögern. Ihre Hoffnung ist offenbar, den unliebsamen Ermittlungsrichter Guzmán doch noch von seinem Posten entfernen zu können. Eine erste Klage gegen Guzmán war Ende vergangener Woche abschlägig beschieden worden, die Berufung läuft. Sollten Pinochets Anwälte vor dem Berufungsgericht Erfolg haben und Guzmán der Fall tatsächlich entzogen werden, hätten sie erneut etliche Monate Zeit gewonnen.

Inzwischen sind über 200 Klagen gegen Pinochet anhängig. Ob irgendeine davon tatsächlich verhandelt wird, scheint angesichts des von Pinochets Verteidigung angezettelten juristischen Kleinkriegs tatsächlich fraglich. Doch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der chilenischen Diktatur geht unabhängig davon weiter.

Am vergangenen Freitag legte Chiles Militär dem sozialistischen Präsidenten Ricardo Lagos einen Bericht über das Schicksal von rund 200 so genannten „Verschwundenen“ vor. Mit Dokumenten und Aussagen gibt er darin Auskunft über Todesumstände und Aufenthaltsort der Leichen von Oppositionellen, die zwischen dem Monat des Militärputsches im September 1973 und März 1974 ermordet wurden – 180 davon identifiziert. Der Bericht, den Heereschef Ricardo Izurieta überreichte, ist Teil einer Vereinbarung des sogenannten „Menschenrechtsdialogs“ zwischen Regierung, Militär, Kirche und einigen Menschenrechtsorganisationen vom vergangenen Jahr, in dem die Militärs sich bereit erklärten, solche Informationen zur Verfügung zu stellen, jedoch weiterhin gemäß der Amnestiegesetze von 1978 straffrei bleiben.

Aus den jetzt übergebenen Unterlagen geht erstmals das offizielle Eingeständnis hervor, dass auch in Chile, ähnlich wie in Argentinien, Häftlinge aus Flugzeugen über dem Wasser abgeworfen wurden, um sie loszuwerden – sowohl über dem offenen Meer als auch über den Flüssen Bío Bío und Toltén.

Präsident Lagos sagte am Wochenende in einer Ansprache an die Nation: „Die Informationen, die ich erhalten habe, sind brutal und schmerzlich. Sie sprechen von Tod, geheimen Bestattungen, im Meer versenkten Leichen. (...) Die Wahrheit, die wir heute kennen, erlaubt es vielen, einen Prozess der Trauer zu beginnen, der so lange überfällig war.“ Zum Verhalten des Militärs sagte Lagos, schwerer als die Anzahl der durch die neuen Informationen aufgeklärten Fälle wiege die Anerkennung der Militärführung, „dass Chile nicht in die Zukunft blicken kann, ohne sich mit den Lasten der Vergangenheit auseinanderzusetzen“. Allerdings bedauere er, „dass einige Personen, die über Informationen verfügen, das schändliche Schweigen vorziehen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch bei jenen das Gewissen sprechen wird.“

Auch Angehörigenorganisationen hatten kritisiert, dass nur Informationen über 200 Fälle bereitgestellt wurden. Tatsächlich ist das Schicksal von mehr als 1.200 „Verschwundenen“ noch immer ungeklärt.