machtkampf in china
: Die Welt wird zum Richter

„Tiananmen Papers“, so heißt die Dokumentation, die der amerikanische Fernsehsender CBS jetzt veröffentlicht hat. Sie verspricht brisantes Insiderwissen, wie das blutige Massaker in Peking 1989 von wenigen „Führern“ Chinas ausgebrütet worden sei. Noch unglaublicher: Der Autor, unter dem Pseudonym Zhang Liang, schwört, er sei kein Dissident. Aufs heftigste wird in den USA, in Taiwan und Hongkong über die Wahrheit der Behauptungen gestritten. Allein das politische Peking schweigt und lässt sich mit einem Dementi reichlich Zeit. Das macht das Ereignis noch mysteriöser.

Kommentarvon SHI MING

Klar ist nur eines: Es geht darum – halbwegs geduldet durch die chinesische Führung –, die Frage der Schuldigen an jenem Blutvergießen von 1989 zu klären. War es Deng Xiaoping, ehemals Generalarchitekt für die chinesische Reformpolitik, war es Li Peng, Chinas heutiger Parlamentsvorsitzender, oder war es außerdem noch Chinas Staatspräsident Jiang Zemin, die den Schießbefehl gegen friedlich demonstrierende Bürger initiiert haben?

Wer am Ende auch immer für schuldig erklärt wird: Es wird Folgen für die heutige Politik haben. War es Deng, so wird seine kapitalistische Reformtheorie zu Grabe getragen. Steht Li Peng, maostischer Dogmatiker vor 12 Jahren, am Pranger, könnte man alle Fehlschläge in den Neunzigerjahren ihm als angeblichem Blockierer anlasten. Die zwingende Schlussfolgerung: Für die weiteren dringenden Reformen müsse man nur den eigentlichen Bösewicht namens Li Peng aus dem Wege räumen. Zum Beispiel auf dem 16. Parteitag 2002. Und dann wäre alles wieder in Ordnung.

Sind die „Papiere“ also ein chinesischer Machtkampf als Show? Es steckt mehr dahinter. Worum es beim offen gewordenen Führungskampf in China auch immer geht, dieser Kampf kann und soll nicht mehr ohne den internationalen Kontext vonstatten gehen. Dafür ist die politische Basis aller Beteiligten schon zu schwach: Der verstorbene Deng hat in China sowieso keine Anhänger mehr; Li Peng und Jiang Zemin sind beide verhasst. Wer sich also im künftigen China für seinen Machterhalt oder für die Machtergreifung moralisch legitimieren will, der muss dies mit internationaler Rückendeckung versuchen. Die Welt soll also mitentscheiden über Chinas Zukunft – das ist die brisante Botschaft dieser „Tiananmen Papers“. Allein: Die Welt ist auf solch eine „Richterrolle“ gar nicht vorbereitet.

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