Langer Marsch in die Moderne

aus Peking GEORG BLUME

Weit ab im chinesischen Hinterland, wo die fruchtbare Ebene Sichuans in karstiges Hügelland übergeht, wohnt in einem versteckten Bergdorf an einem mit Waserlilien bedeckten Tümpel ein fünfzehnjähriger Junge, der Englisch lernt. Kein anderer Bewohner des Dorfes spricht eine Fremdsprache. Die Süßkartoffelbauern der Gegend wollen nicht einmal Pekinger Mandarin verstehen. Doch der Junge in kurzen Hosen begrüßt froh den fremden Besuch und stellt ihn stolz an jeder Hütte vor. Irgendwann will er einmal Ingenieur werden und Straßen bauen. Sichuan braucht noch viele Straßen. In sein Dorf führt bislang nur ein Feldweg.

So einfach können sich Maos Enkel eine Zukunft ausmalen: Englisch lernen und Straßen bauen. Der Plan hat vieles für sich. Denn er lässt sich mit etwas Glück verwirklichen. Man stellt sich die chinesische Jugend heute immer noch im kommunistischen Käfig vor oder betäubt inmitten der großen Masse. Man sieht sie verzweifelt vor den Panzern fliehen, die vor mehr als einem Jahrzehnt auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Hoffnungen einer jungen, politisch begeisterungsfähigen Generation betrogen. Oder man sieht sie im Marschschritt über den Schulhof ziehen – als Zöglinge einer eindimensionalen Gesellschaft. Doch jung sein in China bedeutet heute etwas anderes, als politischen Parolen und autoritären Lehrern zu gehorchen. Dreißig Jahre nach der maoistischen Kulturrevolution und zehn Jahre nach der demokratischen Studentenrevolte bricht in China eine neue Generation ins 21. Jahrhundert auf, die selbstbewusster, individualistischer und weltoffener auftritt als jede chinesische Jugend vor ihr.

Das muss schon auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung so sein: Die Volksrepublik zählt laut UNO nicht mehr – wie fast im ganzen 20. Jahrhundert – zu den ärmsten Ländern der Welt. Heute scheint die Asienkrise überwunden, macht Chinas Wirtschaft mit acht Prozent Wachstum Dampf. Man muss jung sein, um vom Aufschwung zu profitieren: Denn es gedeihen nur die neuen Privatunternehmen, von denen keines älter als zehn, die meisten jünger als fünf Jahre sind. Sie suchen fast ausschließlich junge Arbeitskräfte. Die Krise der Planwirtschaft schlägt dagegen auf die Alten zurück: Gestandene Arbeiter, deren Staatsbetriebe dichtmachen, sind die Leidtragenden der marktwirtschaftlichen Reformen. Nicht die Jugendarbeitslosigkeit gilt derzeit als größtes soziales Problem des Landes, sondern die Altersversorgung.

„Um in China reich zu werden, muss man jung sein“, verkündet Henry Lee, Sohn eines Schanghaier Wirtschaftsprofessors, der in Peking als Inhaber der rosarot getünchten Szenedisco „Club Vogue“ und anderer Jugendlokale zum Vorbild avanciert ist. Der elegante Lee rechnet tausend Chancen vor, wie man als Zwanzigjähriger in Peking ein bisschen Geld verdienen kann, um gleich darauf ein eigenes Unternehmen zu gründen, mit dem man es „in ein bis zwei Jahren zu einer eigenen Wohnung und eigenem Auto bringen kann“. Nie zuvor gab es in China ohne Kenntnis einer Kolonialsprache oder Parteizugehörigkeit solche Aufstiegschancen. Und viele nehmen die Herausforderung an: Allein im Pekinger Unibezirk Zhong Guan Cun entstanden in den letzten Jahren 50.000 neue Unternehmen. Ihr wichtigster Antrieb ist das Internet. Mögen auch etliche Startups binnen kurzem wieder eingehen: Die unternehmerischen Erfahrungen, die keine Generation zuvor machen konnte, kommen den heute Heranwachsenden zugute.

Gleichwohl verspricht der wirtschaftliche Aufbau eines so großen Landes wie China auch der Jugend keinen schnellen Erfolg. Es werden Jahrzehnte vergehen, bis der Lebensstandard breiterer Schichten das Niveau des Westens erreicht. Gerade deshalb prägt eine in Zeiten der Globalisierung nahezu kostenlose kulturelle Emanzipation die neue Generation: Von Hollywood bis Helly Hansen ist Chinas Jugend längst auf Weltniveau, was Filmstars, Kleidungsstil und Markenbewusstsein betrifft. Pepsi kann in Peking endlich mit den gleichen Idolen wie in Paris Reklame machen: Der Fußballstar David Beckham ist der Jugend in West und Ost gleichermaßen bekannt. Mehrere Trends kommen den chinesischen Jugendlichen zuhilfe: Popvideos und -CDs werden in China heute millionenfach schwarz und billig reproduziert. Jeder chinesische Dorfjunge ist damit musikalisch und filmmäßig auf der Höhe der Zeit. Zum Vergleich: Noch die Pekinger Protestjugend von 1989 musste mühsam ihre eigene Musik erfinden – den damals neu geborenen chinesischen Rock.

Ebenso hilfreich ist der chinesischen Jugend die Globalisierung der Modeindustrie: Fast alle großen westlichen Modelabels lassen in China billig herstellen. Von ihren Fabriken wird die gleiche Ware, die in Paris und Berlin teure Boutiqen füllt, preisgünstig auf den innerchinesischen Markt abgeleitet. Die Folge: Studenten in Peking und Schanghai sind heute nach dem aktuellsten Stand westlicher Moden gekleidet. In einem Land, wo sich vor dreißig Jahren noch alle in den gleichen Mao-Anzug hüllten, trägt das nicht unwesentlich zu einem neuen Selbstbewusstsein bei.

Chinas urbane Teenagerjugend trifft sich zu Neujahr im McDonald’s-Restaurant. Es gibt derer längst Dutzende in jeder großen Stadt. Das Leben dort ist sauber und süß. Alle Belehrungen von Eltern und Lehrern, von Konfuzianern und Kommunisten sind bei McDonald’s vergessen. Es trifft sich für die chinesische Jugend ausgezeichnet, dass sich der gegenwärtige Jugendkult im Westen nach Dingen richtet, die in China leicht zu haben sind: Das richtige Markenbewusstsein in Kleidungsfragen kann nun von allen mit dem gleichen inbrünstigen Ernst diskutiert werden. Endlich trefft sich die Selbstwahrnehmung chinesischer Jugendlicher mit der in der westlichen Welt. Das war 1968 unmöglich, als die Protestkultur im Westen auf Gehorsamskult im Osten traf. Das war 1989 unmöglich, als postmoderne Abgeklärtheit im Westen auf naiven Freiheitsdurst im Osten traf. Aber das ist heute möglich, wo Moden und Musik allen wichtiger sind als Partei und Politik.

Das muss nicht so bleiben. Derzeit haben der Dorfjunge in Sichuan und der Elitestudent in Peking eines gemeinsam: Ihnen ist der Glaube an eine nationale Schicksalsgemeinschaft, der seit der ersten modernen Protestbewegung im Mai 1919 jede Jugend prägte, abhanden gekommen. Zu viel in der Vergangenheit ist schief gelaufen, als dass junge Chinesen immer noch auf die Kraft des eigenen Volkes vertrauen wollen. Jetzt will man auf die Welt vertrauen.

Doch Enttäuschungen sind vorprogrammiert. Wenn die Grenzen im eigenen Leben sichtbar werden, wenn der Abstand zum Westen mal wieder größer erscheint, wenn nach den ersten Reformerfolgen die Mühen der Ebene warten – was dann? Chinas Jugend befindet sich auf dem langen Marsch in die Moderne, sie wandert vom Dorf in die Städte, von der Groß- in die Kleinfamilie, tauscht auf dem Weg Opa Mao gegen Tante Madonna ein und hat noch kein festes Ziel. Wer heute mit ihr redet, glaubt nicht an neue Führer- und Sektenkults in China. Was aber Freiheit und Gerechtigkeit im Zuge der Globalisierung bedeuten und welches Beispiel China der Welt in Zukunft geben will, das alles bedenkt diese Jugend nicht. Darin liegen ihre Chance und ihr Risiko.