Von der Idee zur Tat

Die Besetzung der tschechischen Fernsehstudios ist keine „nachholende Revolution“, sondern eine konsequente Fortsetzung des demokratischen Aufbegehrens von 1989

Die gegenwärtige Protestbewegung ist ein Beispiel, wie wirksam zivilgesellschaftliches Engagement ist

Man glaubte, wieder das vieltausendfache Klingen der Schlüsselbunde zu hören, die im November 1989 auf dem Prager Wenzelsplatz dem realsozialistischen Regime der Tschechoslowakei das Totenglöcklein geläutet hatten. Plötzlich, unerwartet war es wieder da, das massenhafte Engagement der Bürger für die Demokratie. Ausgerechnet in Tschechien! Galt es nicht als ausgemacht, dass der Enthusiasmus, der der samtenen Revolution zu ihrer unwiderstehlichen Schwungkraft verholfen hatte, vollständig dahingegangen war? Dass die Idee der Zivilgesellschaft entzaubert, dass sie im öffentlichen Bewusstsein mit der Marktgesellschaft sans phrase identifiziert wurde? Dass die Bevölkerung, missmutig zwar und oft auch angeekelt, sich in den Parteienstaat der Tschechischen Republik geschickt hat – als einzige Alternative zum Realsozialismus?

Natürlich, begeisterte Zuschauer der Solidaritätsbewegung für die tschechischen Fernsehleute aus dem Westen sollten sich in Vorsicht üben, vor allem wenn sie der Linken anhängen. Ihre Hoffnungen auf einen dritten, demokratisch-sozialistischen Weg der ostmitteleuropäischen Revolutionen jenseits von Kapitalismus und Realsozialismus, also auch jenseits der Grenzen der westlichen Parteienstaaten, waren stets mehr von ihren eigenen Bedürfnissen diktiert als von denen der Völker, die das Fest der friedlichen Revolution veranstalteten. Und dennoch (und bei aller selbst auferlegter Zurückhaltung): Wir haben bei der gegenwärtigen Protestbewegung in Prag genau ein Beispiel für die Wirksamkeit zivilgesellschaftlichen Protests jenseits des institutionalisierten politischen Spiels vor uns; mit einem Widerstandskern, den streikenden Journalisten, die wie selbstverständlich zum Mittel des zivilen Ungehorsams, zu Besetzungsaktionen, zum produktiven Streik greifen; und mit einer vielgestaltigen, selbstbewussten Unterstützerschar, die es beim einmaligen, papierenen Protest nicht bewenden lässt?

Die vielfach geäußerte Erklärung, der Grund für andauernde Protestbewegung liege in der faktischen großen Koalition, die Tschechien regiert, sie stimmt, aber wirft sie ein hinreichendes Licht auf die so erfreulichen Prager Ereignisse? Dass sich die Neoliberalen um Václav Klaus ihre Unterstützung der sozialdemokratischen Minderheitsregierung Miloš Zemans mit jeder Menge Druckposten, darunter auch im öffentlichen Fernsehen, bezahlen lassen, ist offensichtlich. Wie überhaupt der Mangel einer effektiven parlamentarischen Opposition außerparlamentarische Bewegungen ins Kraut schießen lässt: Da sind die Bundesrepublik Deutschland zu Zeiten der großen Koalition (1966 – 1969) ein lehrreiches Beispiel und jetzt auch Tschechien.

Hier vor allem liegt der Unterschied zur Entwicklung in Polen. Die aufeinander folgenden Regierungen der nachsozialistischen polnischen Republik haben sich jeweis schamlos die öffentlichen Medien unter den Nagel gerissen, Intendantenposten und Aufsichtsgremien wechselten die politischen Farben, ohne dass sich nachhaltiger gesellschaftlicher Protest erhoben hätte. Die skrupellosen Machtpolitiker, das war und ist die jeweils andere Parteiengruppe. Obwohl sich die programmatischen Unterschiede zwischen der Post-Solidarność-Gruppierung, der konservativen AWS und den postkommunistischen sozialdemokratischen Linken der SLD immer mehr verwischen, hält sich in der Gesellschaft ein starkes Bewusstsein von der Konfrontation zweier Lager.

Seltsamerweise wird aber auch im Milieu der polnischen Journalisten kaum organisierter Unmut laut über den Stand der Dinge. Gewerkschaftliche Organisierung von Journalisten ist faktisch nichtexistent. Visuelle und Printmedienarbeiter akzeptieren vollständig das Spiel der Marktkräfte und dessen angebliche und wirkliche ökonomischen Zwänge. Themen wie das der Eigentumsverhältnisse an der Presse und redaktionelle Unabhängigkeit lassen die Journalisten kalt. Und wenn es einmal eine Aufwallung gibt, dann ist sie eher nationalistischen Befürchtungen hinsichtlich der Übermacht deutscher Zeitungsinvestoren geschuldet als der Sorge um die Pressefreiheit. In der Zeit der Solidarność 1980/81 gab es dagegen ein lebendiges Bewusstsein von der Bedeutung selbst verwalteter, unabhängiger Medien. Die damaligen Forderungen standen im Zeichen des antitotalitären Kampfs. Heute hingegen herrscht die ersehnte westliche Normalität.

Gerade hierin scheint der Unterschied bei Journalisten und Publikum in Polen und Tschechien zu liegen. Worauf soll sich die 1989 erkämpfte Demokratie stützen? Welche Rolle sollen eigentlich gesellschaftliche Kräfte spielen, die zwischen den gesellschaftlichen und staatlichen Großorganisationen agieren, die durch ihre Aktions- wie ihre Organisationsformen als locker ausgeworfene Netze der machtpolitischen Erstarrung entgegenwirken?

Man hat dem tschechischen Präsideten Václav Havel oft vorgeworfen, er sei teils freiwillig, teils gezwungen, den Idealen der „civil society“ aus seiner Dissidentenzeit untreu geworden, habe sich mit leeren philosophischen Bekenntnissen und einigen bissigen Bemerkungen gegen die Mafiosi der Übergangsperiode zu Kapitalismus und Markt begnügt. Jetzt zeigt die Solidarität des Präsidenten mit den Streikenden, dass das Regierungsamt nicht alle Einsichten weggespült hat. Havel ist Realist, was die Alltagsmoral seiner Tschechen (und nicht nur der Tschechen) anbelangt. Aber schon vor vier Jahren sprach er von seinen Landsleuten als Wesen, „die gern drei Privatisierungsfonds gegen ein freundliches Lächeln oder liebevolles Streicheln eintauschen“, die zwar in der Lage sind, auf alle Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens zu spucken, aber gleichzeitig „uneigennützig am öffentlichen Leben teilnehmen und den Nächsten Gutes tun wollen“.

Begeisterte Linke im Westen sollten vorsichtig sein, denn es geht hier nicht mehr um einen dritten Weg

Das schon erledigt geglaubte Thema „Was bleibt von den demokratischen Revolutionen des Jahres 89“ ist auf dem Wenzelsplatz und im Nachrichtenstudio des Fernsehens wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden. Auch die Kritik am oligarchischen Parteienstaat und seiner Tendenz, die öffentliche Sphäre mit Haut und Haaren aufzufressen. Timothy Garton Ash, der teilnehmende Beobachter der demokratischen Revolutionen von 1989, hatte Unrecht, als er den damaligen Volksbewegungen nur eine Originalität der Mittel (die „sanften“), nicht aber der politischen Zwecke zugestand. Offenkundig hat das Bewusstsein von der Notwendigkeit, das „gemeine Wohl“ zur eigenen Sache zu machen, nur einen kurzen, mehrjährigen Mittagsschlaf gehalten. Es geht hier um Probleme der Übergangsgesellschaften, nicht um eine „nachholende Revolution“. Die Tschechen haben uns einiges in Sachen Zivilgesellschaft und Parteienstaat mitzuteilen. Oder sind wir mit unserem Parteiensystem zufrieden? Und vor allem: Sind bei uns Bürgermut und Bürgerengagement so überragend ausgeprägt, wie sie es sein sollten?

CHRISTIAN SEMLER