Mit Esprit anziehen und reden

Werfen Angst um wie Statuen, die zu lange auf öffentlichen Plätzen herumgestanden haben: „Stereo Total“ zeigen's heute Abend mit Gästen in der Fabrik  ■ Von Kristof Schreuf

In den Räumen der Berliner Redaktion der taz sitzt zwischen Tischen mit Computern eine Frau an einer Schreibmaschine. Sie schaut aus großen Augen und trägt lange Haare, die meistens aussehen, als wären sie gerade eben noch zu einem Pferdeschwanz geflochten gewesen. Françoise Cactus sitzt vor der Schreibmaschine und singt den Zuschauern des Videos ihrer Gruppe Stereo Total den Text vor, den sie auf das Blatt in der Schreibmaschine schreibt. Weil sie etwas besonderes verfasst, bringt sie das auf eine besondere Äußerungsform: sie singt nicht nur die Worte mit, sondern auch die Satzzeichen. Plötzlich sieht die Szene nach einem Musical aus, in welchem es My Fair Cactus um den richtigen Ton und um den korrekten romantischen Ausdruck beim Thema Liebe geht. Gezeigt wird, wie nett gemeinte Dinge plötzlich einen Zauber haben, zum Beispiel eine Schreibmaschine neben Computern. Da brechen aus dem Zuschauer Adjektive aus: goldig, hinreißend.

Cactus ist seit vielen Jahren für sehr unterschiedliche Persönlichkeiten wichtig. Mitglieder der Berliner Band Pop Tarts bekommen bei der bloßen Erwähnung von Cactus' Namen vergrößerte Pupillen. Der Hamburger Musiker Ted Gaier ließ sich von ihr darauf bringen, Songs auf eine journalistische Art zu schreiben. Gaier montierte auf Anregung von Cactus Meldungen, bis sie Strophen für Songs wie „Das bisschen Totschlag“ oder „Die Menschen von Rostock, Solingen, Mölln und anderswo“ ergaben.

Cactus versammelt um sich Persönlichkeiten, die sich mit Esprit anziehen und genauso reden. Vor allen anderen wäre da Brezel Göring zu erwähnen. Wenn man Görings Stimme hört, dann ist der Ausdruck „Charakter-Timbre“ gerechtfertigt. Der Klang dieser Stimme weckt Erinnerungen an Elmar Guntsch und dessen Wetterberichte, die einen auch bei der Nachricht über schlimmsten Niederschlag freudig zerfließen ließen. Wenn Cactus Schlagzeug spielt und singt, dann spielt Göring zur selben Zeit alles, was im weitesten Sinn den Begriff Keyboard verträgt.

Die Gruppe von Göring und Cactus ist eine Pop-Band. Im Falle von Stereo Total heißt das, dass mal ein Meteorit in ihre Biographie eingeschlagen ist: Erst waren sie einfach nur da und Kinder. Sie verloren vielleicht schon Zeit, aber sie suchten nicht nach ihr. Vielleicht hatten sie ein paar Ahnungen, was der Fall sein könnte. Was für Möglichkeiten es „hier drin“ nicht gibt und vieleicht „dort draußen“ auf sie warten. Dann ist der Meteorit, also die Musik, aufgeschlagen. Wie bei dem Felsen aus dem All war und ist es bei der Musik nicht wichtig, ob sie „gut“ oder „ schlecht“ ist. Von Bedeutung ist aber, dass hinterher nichts mehr ist, wie es vorher war. Die Musik liefert ein ebenso schwerwiegendes wie kitschiges Erlebnis aus dem Kapitel „Das bin ich: die Person, die ihren Namen nicht erfährt, ändert ihr Leben“.

Ab da ist das Leben Fortbewegung in schillernder Geschwindigkeit. Der Freundeskreis ist nicht mehr derselbe. Die Bedingungen, unter denen Freundschaften entstehen und warum Freundschaft funktioniert, ändern sich. Liebe ist jetzt Verlieben, kreuz und quer, frei flottierend und an die Wand.

Den Soundtrack zur Liebe, zur Musik, zur Sorge um sich und zu allem, was du brauchst klingt bei Stereo Total nach Bänkel-Roll, schnellen Chansons und Liedern für ein antifaschistisches Volk. Cactus singt dazu französische Texte, die auch in der deutschen Übersetzung wirken: „Ich tue das, was geht/ Ich spiele das, was ansteht/ Ich bin eine der Figuren, die ich spiele/ davon gibt es viele/ Die stelle ich hin, wo ich lache und wo ich die Musik spielen lasse/ Wenn ich auftrete, geht es um Farben/ von Ocker bis Türkis/ Es ist glamourös/ Ich rette mich / und fühle mich so weit/ /Denn die Kirche im Dorf / ist nicht gerade mein Lieblingsort/ Das ist Rock/ Ich weiß, es geht um Schönheit/ Und wenn ich schweige, kann das morden/ Du wirst dich vergucken/ Und ich werde sagen:/ Ich hab' nicht viel Zeit, wenn ich den Teufel tue/ Ich komme nicht zur Ruhe/ Das ist Liebe unter allen Mitteln“ (aus dem Stück: „Zeit, den Teufel zu tun“).

Wenn der Regisseur Godard mal gesagt hat, dass jeder ein Diktator sei, der zu mehr als zwölf Leuten sprechen kann, dann sind Stereo Total eine Gruppe, die für mehr als zwölf Leute revolutionär antiautoritäre Musik machen kann. Altmodisch klingt nur dieser Ausdruck, die Band ist es nicht. Ihre Musik und ihre Erscheinung werfen Angst um wie Statuen, die zu lange auf öffentlichen Plätzen gestanden haben. Stereo Total spielen schon immer in einer Zeit, in der Diktatoren im Altersheim sitzen oder sich in Frösche verwandelt haben, die zwar jedem zuquaken, dass sie in Wirklichkeit Prinzen sind, die aber keiner küssen will. Mit dieser Band lässt sich jeden Abend eine Pariser Kommune gründen.

heute, 21 Uhr, Fabrik; Supp. Mondo Fumatore und DJ Jacques Palminger; Very Special Guests: Kommando Sonnenmilch mit einem 20-minütigen Auftritt