Tage voller Scham und Schande

Im Namen aller Fußballfreunde protestestiert unser indischer Experte Ashwin Raman mit Nachdruck gegen das deutsche Fußballjahr 2000

von ASHWIN RAMAN

„Aus einem traurigen Arsch kommt kein fröhlicher Furz.“

Dettmar Cramer über den deutschen Fußball.

Am 20. Juni 2000 weinte die Nation. Für viele Deutsche war dies wahrscheinlich sogar einer der schwärzesten Tage der Nachkriegsgeschichte. Das 0:3 gegen Portugal in der Vorrunde der Fußball-Europameisterschaft war keine einfache Niederlage. Es war eine Demütigung. Man erlebte eine deutsche Mannschaft wie nie zuvor. Kampflos, kraftlos und vor allem konzept- und orientierungslos.

„Deutschland schämt sich für euch!“, jaulte Bild und warf den deutschen Profis Hochverrat vor. Als die Spieler am Abend der Schande auch noch Bier und Sekt im Wert von angeblich 1.400 Mark konsumierten und bis zum Morgengrauen sangen (unter anderem „Anton von Tirol“ und „Hände zum Himmel“), musste Bild grundsätzlich werden. Zunächst nannte das Blatt die Spieler „einen charakterlosen Haufen“. Unter der Schlagzeile „Die Nacht der Schande“ fügte sie hinzu: „Ja, die Pfeifen haben auch noch gefeiert! Was eigentlich? Die Dummheit von uns allen, die wir im Stadion oder vor dem Fernsehen bis zuletzt gehofft haben?“

Dabei war es nur gekommen, wie es hatte kommen müssen. Und die Profis hatten daran zwar Anteil, aber eher geringen. Als Bundestrainer Berti Vogts gegangen worden war, flüsterte Franz Beckenbauer einen Namen in das Ohr des DFB-Präsidenten Egidius Braun. Und so geschah es . . . Erich Ribbeck war gerade dabei, mit seiner Frau ein Candlelight-Dinner einzunehmen, als sein Handy klingelte.

Der rüstige Frührentner hatte vor ein paar Jahren Abschied vom Fußballgeschäft genommen und die Bundesliga von Spanien aus verfolgt. Nun wurde er Bundestrainer bzw. „Teamchef“.

Er tat, was alle Rentner tun. Er scharte andere Rentner um sich, speziell den Libero-Rentner Lothar Matthäus. „Jo, wo will der alte Sack hin?“, hatte Beckenbauer noch gelästert, als Matthäus von Bayern wegwollte. Plötzlich fand auch der Kaiser diese Aktion „längst überfällig“.

Ribbeck hatte etwas erfrischend Unverquastes. Hier war endlich mal ein Trainer, der sagte, dass Taktik und Konzept „Kokolores“ seien. Und so war es konsequent, dass wir ein Team zur EM nach Holland und Belgien geschickt haben, das nicht einmal die Grundlagen des Fußballs beherrschte. Kurz danach durften wir noch ein letztes Mal Erlesenes von Ribbeck erleben: „Muss ich das jetzt als Frage verstehen oder die Antwort so beantworten, wie Sie sie in ihre Frage reingelegt haben? Sie haben ihre Frage so gestellt, dass man das Gefühl haben muss, als wenn ich das, was Sie gerade gesagt haben, vorher schon gesagt hatte. Das habe ich aber nicht gesagt. Dem, was ich gesagt habe, möchte ich nichts hinzufügen.“

Wer so redet, gehört in eine Anstalt namens Deutscher Bundestag.

Ribbecks Nachfolger gehörte dann zwar auch in eine Anstalt, aber damals wusste noch keiner von seinen anderen Leidenschaften. Christoph Daum sollte den deutschen Fußball retten. Nie zuvor hat es einen (designierten) Bundestrainer gegeben, der so aussah, so sprach und sich so benahm wie Daum. Nein, er war keiner dieser grauen Männer der Vergangenheit. Niemand hat ihn je bei einem Spruch wie „Der Ball ist rund“ oder „Ein Spiel dauert neunzig Minuten“ ertappt. Der trug hellblaue Anzüge, tobte ununterbrochen auf der Bank und ließ seine Leverkusener als Motivationstraining über Glasscherben laufen. „Andere erziehen ihre Kinder zweisprachig, ich erziehe sie beidfüßig“, war einer seiner Lieblingssprüche. Dass er selbst erziehungsbedürftig war, stellte sich erst später heraus.

Symptomatisch waren die Ereignisse, die zu Daums Nominierung geführt hatten. Beckenbauer wollte ihn zunächst haben. Nachdem man sich dann mit Leverkusen einigen konnte, machte jedoch die Drogengeschichte die Runde und der Kaiser zögerte. „Gerüchte gibt es schon lange, der Christoph soll sich einem Drogentest unterziehen“, meinte er. Als der Test dann positiv ausfiel, sagte Beckenbauer lapidar: „Ich wünsche dem Christoph alles Gute.“ Dass er selbst zu diesem Zeitpunkt dabei war, seinem Volk ein uneheliches Kind zu bescheren, war nebensächlich.

Warum auch nicht? Schließlich holte der Kaiser die WM 2006 nach Deutschland. Der Weltfußballverband entschied sich „überraschend“ für Deutschland. Dies war nur möglich, weil Ozeanien sich der Stimme enthielt. Reden wir Klartext: Diese Wahl spielte sich an der Grenze der Legalität ab. Ozeanien, das in Sachen Fußball ein Entwicklungsland ist und für Südafrika stimmen wollte, muss massiv unter Druck gesetzt worden sein, sich der Stimme zu enthalten. Verschwiegen wurde, dass an arme afrikanische und asiatische Fußballverbände Geld und Vergünstigungen geflossen sind. Zusätzlich übten die großen Sportartikelhersteller extremen Einfluss auf diese Länder aus. Dass Südafrika am helllichten Tag der WM 2006 beraubt wurde, ist indiskutabel.

Ausgiebig war allen Medien zu entnehmen, wie viele Kilometer und Monate der Kaiser unterwegs war, um für Deutschland zu werben. Zweifellos hat er sehr dazu beigetragen, dass die WM in Deutschland stattfindet. Aber: Hätte ein so genanntes Dritte-Welt-Land mit solchen Methoden gearbeitet, hätten die Medien empört von Korruption und Intrigen berichtet.

Oder vielleicht auch nicht.

In einem Zeitalter, in dem sich Politiker offen zu illegalen Schwarzgeldkonten bekennen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, ist letzten Endes alles legitim. Dann ist auch zu vertreten, dass in der entscheidenden Phase der WM-Vergabe der Bundeskanzler nach Bern fährt, um eine halbe Stunde daumendrückend auf der Bühne zu stehen.

Gesellschaftspolitisch gesehen wäre es eine bessere Investition gewesen, seine Zeit bei der D-Jugend in Bottrop zu verbringen als in Bern. Beobachten wir an einem beliebigen Samstagnachmittag irgendwo in Deutschland eine Jugendmannschaft. Die Kinder gehen in die Umkleidekabinen. Die Eltern öffnen den Vereinscontainer, um Kaffee, Bier und Bratwürste zu verkaufen. In den Kabinen geht es ernst zu. „Du bleibst an deinem Mann kleben, und wenn der aufs Klo will, gehst du mit! Ist das klar?“ So redet ein Trainer. Etwas später sitzt er am Tisch und kontrolliert die Spielerpässe der Gegner. Kurz darauf pfeift der Schiedsrichter die Mannschaften zu sich. Nochmal Passkontrolle.

Die Namen werden aufgerufen, und die Spieler müssen ihr Geburtsdatum brüllen. Die Deutschen haben es mit Ausweisen. Sogar Pandabären im Berliner Tierpark brauchen Aufenthaltsgenehmigungen. Das Spiel beginnt. Die wohl genährten Väter mit Bier und Bratwurst in der Hand peitschen die Jungs zur Hochleistung. Schiedsrichter und Gegner werden beschimpft. Der Trainer sieht zu, dass in der Mannschaft Ordnung herrscht. Die Viererkette muss stehen, wo sie hingehört. Und wehe, einer tanzt aus der Reihe und geht nach vorne. Jegliche Spontaneität wird gedrosselt. Ordnung muss sein!

Keine Fantasie, keine Initiative . . . Und Rassismus ist gang und gäbe. „Türke“ und „Neger“ sind Schimpfworte in den Kabinen und auf dem Platz. Eltern, deren Kinder auf der Bank sitzen müssen, weil ein Türke besser Fußball spielen kann, sind nicht zimperlich mit ihren Äußerungen. Ein D-Jugend-Spieler von Teutonia Waltrop zum Beispiel durfte nicht in der Kreisauswahl Recklinghausen spielen, da er keine deutsche Geburtsurkunde besaß. „Fast alle Ausländer machen sich jünger als sie sind“, sagte mir der Trainer. Warum derselbe Spieler aber für Waltrop spielen durfte, konnte er mir nicht erklären.

Über vierzig Jahre ist es her, als die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Aber immer noch gibt es keinen Ausländer (mit deutschem Pass), der für die Nationalmannschaft spielt. In Nachbarländern wie Frankreich, den Niederlanden oder England sind mehr als die Hälfte der Nationalspieler ausländischer Abstammung.

Es ist nicht ganz so mager in der Bundesliga, aber etwas Farbe könnte dem deutschen Fußball gut tun. Der Ungar Pal Csernai sagte einmal: „In der Bundesliga wird Fußball gespielt, wie sie in China Anzüge tragen! Einheitlich, alles gleich.“ Der Däne Peter Schmeichel war noch direkter: „Deutsche Spieler sind prinzipiell unbegabt, langweilig und humorlos.“

Dass die Deutschen humorlos sind, kann man vertreten. Aber dass die deutschen Fußballspieler keinen Humor besitzen, ist einfach falsch.

Fritz Walter (der Junge) zum Beispiel stellte fest: „Der Klinsmann und ich, wir sind ein gutes Trio.“ Etwas später: „Ich meinte, ein Quartett.“

Und der Exprofi Roland Wohlfahrt: „Zwei Chancen, ein Tor. Das nennt man wohl hundertprozentige Chancenverwertung“.

Und wie kann Heiner Geißler behaupten, dass die Berühmtheit mancher Fußballer mit der Dummheit ihrer Bewunderer zusammenhängt? Meint er etwa, dass Fußballspieler und Trainer ungebildet sind? Der kicker fragte mal den Trainer Friedel Rausch, wen er gerne kennen lernen würde. Rausch: „Marcel-Reichs-Ranitzky.“

Andreas Möller gefragt, wo er gerne spielen möchte: „Ist mir egal. Juve, Inter, Real Madrid, Hauptsache Italien“.

Auch die Fußballkultur hat sich mit der Zeit bewegt. Wer hätte je gedacht, dass American Style Cheerleaders in deutschen Stadien herumhüpfen würden. Vorbei sind die Samstag-Nachmittag-Radio-Berichterstattungen mit Kommentatoren wie Werner Hansch. „Ran“ hat ihn uns weggenommen und in die fantasielose wortkarge Fernsehwelt gesteckt. Kurze Interviews, noch kürzere Gespräche, ein wenig Fußball und viel Werbung. Kommentatoren, die auf Fehlentscheidungen der Schiedsrichter lauern. Nicht ein Bericht ohne elektronische Bloßstellung einer Abseitsentscheidung. Dass der Schiedsrichter auf der Stelle Entscheidungen treffen muss, und nicht die Hilfe eines elektronischen Auges hat, ist dem Reporter egal.

Kaum ist das Spiel zu Ende, werden die Spieler vor die Kamera geholt. Die Aussagen sind natürlich immer gleich. Die Sieger sagen: „Wir haben alles gegeben“, „Es war ein hartes Stück Arbeit“, und immer abschließend „Im Großen und Ganzen sind wir rundum zufrieden“.

Im Namen aller deutschen Fußballfans, darf ich mit Nachdruck mitteilen, dass wir im Jahr 2000 nicht zufrieden waren.