Ende einer Odyssee

Unser Wissen erweist sich zunehmend als brüchig und konstruiert, ja als Nicht-Wissen. Das könnte die Chance für eine Renaissance des Individuums und eine neue Politik sein

Die Anerkennung von Vielfalt, die durch Individuen erst möglich wird, hat auch in unserer Kultur Tradition

Nein, nicht noch mal diesen biederen Oberlehrerstreit, ob das neue Jahrtausend bereits am 1. 1. 2000 begonnen hat, oder noch vor uns liegt. Und doch kann man dem Datum was abgewinnen. Nachdem der Übergang vor einem Jahr, wie das vergangene Jahrhundert im Zeichen der Apokalypse stand und der Angst Computer aller Länder könnten verrückt spielen, so ließe sich der 1. 1. 2001 als zweite Chance betrachten. Oder wie Peter Sloterdijk mal schrieb, „die Begeisterungen haben die Welt nur verschieden umflogen, es kommt drauf an zur Welt zu kommen.“

Im Abendland siegten immer wieder die Höhenflüge, und es folgten die bekannten Abstürze. Wie ihr Idol – der Gott, der keine anderen neben sich duldet – wollten seine Einwohner von außen aufs Ganze blicken. Sie verehrten den objektiven Blick, das sichere Wissen, eben die eine Wahrheit. Nur so konnten sich die Sterblichen als göttlich vorkommen. Dass wir uns nach den Hymnen vom Himmel auf Erden, endlich ans Projekt Erde auf Erden machen, ist in diesen Tagen zum Greifen nahe. Zum Beispiel BSE. Das Thema hinter dem Thema Rinderwahn ist ja die Erkenntnis, „dass die Sicherheitsversprechen von Wissenschaft, Politik und Industrie auf dem Treibsand gewussten Nicht-Wissens aufgebaut sind“. So der Theoretiker der Risikogesellschaft, Ulrich Beck. Er fragt, „wie entscheiden wir unter Bedingungen gewussten Nicht-Wissens?“ Seine Antwort: Unser Wissen ist brüchig und konstruiert. Nico Stehr, der profilierte Theoretiker der „Wissensgesellschaft“, sieht sie als „zerbrechliche Gesellschaft“ und konstatiert in seinem neuen Buch „die Stagnation der Macht und die Chancen des Individuums“. Diese Konstellation ermöglicht, ja, zwingt zu einer Renaissance von Politik, und diese könnte zugleich eine des Individuums werden.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Gemeint ist nicht die Maske des Besitzindividualismus und schon gar nicht der soziale Autist. Das sind Panzerungen, mit denen das Individuum seine Individualität vereitelt. Aber je weniger es seine Schwäche leugnet, umso mehr ist er auf die anderen, also auf Politik und Gesellschaft angewiesen. „Bisher standen noch Altäre der Heiligen und die Flügel der Erzengel hinter ihm“, schrieb Gottfried Benn. Wenn es sich künftig ins Offene und Unsichere wagen muss, haben wir eine Politik, die diesen Namen verdient, überhaupt erst vor uns. Nicht die alte gläubige und rechthaberische Politik, die sich immer noch in der Gottes-Grammatik bewegt. Sie geht in der Farce, die wir erleben, unter. Aus dem neuen Atheismus könnte etwas entstehen, das man lieber Polytik nennen sollte: Möglichkeitsräume, aus denen man was machen kann.

Als der Soziologe Niklas Luhmann gefragt wurde, wie viele Wahrheiten es seiner Meinung nach gäbe, zögerte er einen Moment und antwortete, „na, so fünfeinhalb Milliarden“. Das ist einige Jahre her. Der Dichter Durs Grünbein sagt: „Wenn ein Körper stirbt, geht ein Kosmos zu Grunde, jedes Hirn repräsentiert eine eigene Welt. Wir haben jetzt also etwa sechs Milliarden Welten.“ Das sind Gedanken, die dem wachen Menschenverstand nicht fremd sind, die auch ihre Tradition haben, aber der Mainstream kämpfte um die eine Wahrheit. Man stritt darum, welche, führt in deren Namen Kriege, missionierte und vernichtete.

Frappierend ist für uns doch Folgendes: Jede Biene aus ein und demselben Bienenstock entwirft in ihrem Hirn eine andere Karte vom Stock und von ihrer Umgebung. Obgleich sich all diese Mindmaps unterscheiden, findet jede Biene ihr Ziel. Oder ist es nicht vielmehr so, dass jede ihr Ziel findet, weil sie sich unterscheiden? An diesen beiden Wörter obgleich oder weil scheiden sich die Denkweisen. Vermutlich neigen die meisten dazu der Konjunktion obgleich den Vorzug zu geben. Wenn man es einleuchtender findet zu sagen, sie finden ihren Weg, weil sie verschiedene Karten im Kopf haben, erkennt man, die Dialektik der Individualisierung. Denn weil sie sich unterscheiden, müssen sie jeweils andere Bilder ihrer Umgebung, also ihrer Welt haben. Nur so können sie sich einer gemeinsamen Welt zurechtfinden. Ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke für die Kinder des Abendlandes.

Aus dem neuen Atheismus könnte etwas entstehen, das man Polytik nennen sollte: Möglichkeitsräume

Die Hirnforschung macht auf ihre Weise plausibel, was Individualität heißt: Die Menge der möglichen Aktivitätsmuster unseres Gehirns beträgt 10[3000]Operationen. Das muss schon sehr viel sein, denn die Zahl der Protonen im Universum beträgt nur 10[80].

Die Anerkennung von Vielfalt, die durch Individuen erst möglich wird, hat auch in unserer Kultur Tradition. Darauf weist der Philosoph Volker Gerhard in seinem kürzlich erschienen Buch „Individualität – das Element der Welt“ hin. Er zitiert Niklaus von Kues, der vor 600 Jahren geboren wurde. Kues schrieb: „Wirklich sind allein die Individuen, in denen sich das Universum zusammenzieht.“ Die Entstehung von Neuem wäre ohne Individuen, also ohne Differenz, gar nicht denkbar „ Das Neue kann nur durch Individuen erkannt und bewertet werden“, argumentiert Gerhard. Dazu kann man sagen, na klar, von wem denn sonst, und den Satz fundamental banal finden. Aber Moment: Solange faktisch Organisationen und Gruppen herrschen, ist es immer noch ein Skandal Individuum zu sein. Oder mit den Worten des Exmanagers Reinhard Sprenger: „Individualität stört in allen Organisationen.“ Und dennoch sind die Organisationen heute im Zwiespalt: denn das Neue, auf das sie aus sind, kommt von Individuen. Die Entropie der Es-gibt-nur-eine-Wahrheit-Welt hat kaum jemand so deutlich gesehen wie Hannah Arendt. Dass diese große Denkerin, die vor 25 Jahren starb, heute wiederentdeckt, ja vielleicht erst wirklich entdeckt wird, hängt auch mit dieser neuen Drift in der Gesellschaft zusammen, die dem Individuum Rückenwind gibt. Auch wenn ich diesen Satz an dieser Stelle schon einmal zitiert habe: „Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag“, schrieb Hannah Arendt. „ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, dass alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so dass aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.“ Das sagte sie 1959, als sie sich für den Lessing-Preis bedankte. „Die Welt“, fuhr sie fort, „liegt zwischen den Menschen, und dieses Zwischen ist heute Gegenstand der größten Sorge – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch.“ Denn weil es „den Menschen an sich“ nicht gibt, ist jeder Mensch ein Dissident. Jeder ist anders unvollkommen. Nur aus diesem Mangel, dieser schönen Erbsünde von uns – wie Lessing sagte – „eingeschränkten Göttern“ entspringt die gemeinsame Welt. Nur unvollkommene, sterbliche Individuen können ein beseeltes „Zwischen“ bilden. REINHARD KAHL